Der amerikanische Albtraum – Philip Dicks Roman „Stimmen der Straße“

von Florian Haamann

Foto: Liebeskind

„Der linke Augapfel pendelte auf Höhe der Wangen, ein Teil seines Unterkiefers war abgetrennt worden.“ Eine furiose Selbstverstümmelung eröffnet die letzte Phase der traurigen Selbstfindung des Stuart Hadley.

Bis dahin hat dieser versucht, einen Platz in der US-amerikanischen Gesellschaft der 50er Jahre und dabei sich selbst, zu finden – erfolglos. Sein amerikanischer Albtraum verläuft vom Fernsehverkäufer zum Zeugwart. Und beginnt in einem staubigen Fernsehfachgeschäft, auf dessen heruntergekommener Neonrekalme erstrahlt: Modern TV Sales and Service.

Zwei Seelen schlagen ach in seiner Brust - kommt es einem unweigerlich in den Sinn. Hadley sagt über sich selbst: „Ich bin ein Intellektueller. Ich bin ein Denker. Ein Träumer“ - eine gelungene Selbstbeschreibung.

Doch mit jedem Atemzug frisst sich die Unzufriedenheit tiefer in seine Seele. Wie ein Erlöser erscheint ihm bald der Sektenführer Theodor Beckheim. Mit religiösen Phrasen vom Untergang der Welt und der Abscheulichkeit der Menschen bringt er bei Hadley eine Saite zum schwingen.

Die Abwärtsspirale dreht sich aber munter weiter, als Marsha Frazier auftritt. Wie der faust'sche Pudel drängt sie sich in Stuarts Leben, um seine Seele zu verführen. Sie ermöglicht ihm ein Treffen mit Beckheim. Die Begegnung wird zur Enttäuschung, der strahlende Erlöser verblasst. Dafür bleibt Marsha und nagt die Reste von Stuarts Identitätsskelett.

Ein eigentlich positives Ereignis gibt ihm den Rest: er wird Geschäftsführer von Modern TV. Endgültig fühlt er sich in ein Leben eingemauert, das er so nicht führen will. Mit dem Rücken zur Wand explodiert Stuart: „Er erwischte sie unterhalb des Wangenknochens. Eigentlich wollte er sie auf den vor Furcht verzerrten Mund schlagen. Nun beugte er sich vor packte sie am Kopf und schlug systematisch mit der offenen Hand auf sie ein.“

Mit seiner schonungslosen und klaren Sprache zieht Philip K. Dick seinen Leser tief hinein ins traurige Leben Stuart Hadleys. Von der ersten Seite an fühlt man sich mit diesem Durchschnittstypen verbunden und durchlebt mit ihm die verzweifelte Hoffnung auf ein besseres Leben; man leidet mit ihm, wenn er Tag für Tag melancholisch das pulsierende Leben auf der Straße verfolgt, während er selbst in der tristen Parallelwelt Modern TV zu Grunde geht. Solange, bis er die Kontrolle verliert. Wir verstehen ihn, kennen wir doch alle die Phasen, in denen wir uns selbst wie junge Götter fühlen, denen sich die Welt aber einfach nicht zu Füßen legen will...

Das Einzelschicksal Stuart Hadleys geht auch deswegen so nah, weil es unser Leben sein könnte. Alles dreht sich um den geplatzen Traum vom großen Glück. Die Welt offenbart sich in ihrer vollkommenen Ungerechtigkeit; es ist diese Welt, in der Stuart Hadley zum Unmenschen wird und sich noch einmal gegen dieses verfluchte Leben auflehnt.

Erfrischend, fast märchenhaft ist es, wie Dick seinen verstoßenen Protagonisten nach allen Ausbrüchen doch noch zum Menschen werden lässt.

„Stimmen der Straße“ geschrieben 1953, wurde erst 2007 in den USA veröffentlicht und ist das zeitlose Porträt einer modernen Gesellschaft und der sich in ihr verlierenden Individuen.

„Stimmen der Straße“ (397 Seiten) ist soeben erstmals auf deutsch im Liebeskindverlag erschienen und kostet 22€.

Veröffentlicht am: 08.09.2010

Andere Artikel aus der Kategorie