Ein Fotograf aus Frankfurt erobert Neapel - Süditalien in Fotografien aus dem 19. Jahrhundert in der Neuen Pinakothek

von Achim Manthey

Giorgio Sommer, Ausbruch des Vesuv am 26. April 1872 (Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen/Sammlung Siegert

Um 1826 herum kam etwas auf, das die Sicht der Menschen auf die Welt veränderte: Fotografie. Rasch begann sie das zu ersetzen, was Maler und Zeichner bis dahin in die Welt getragen hatten. Das machte auch vor Neapel und Süditalien nicht Halt. In der Neuen Pinakothek in München ist die bemerkenswerte Ausstellung "Neapel und der Süden, Fotografien 1846-1900" mit Bildern aus der Sammlung Siegert zu sehen, die eine Sicht gewährt auf das, was einmal war und heute nicht mehr ist.

Giorgio Sommer war ganz besonders produktiv: Stadtansichten, Tempelanlagen, Landschaften, Straßenszenen, aber auch Naturkatastrophen. Überall in Süditalien war der Fotograf unterwegs, baute seine Kamera auf und nahm wie besessen auf, was er sah. Den Ausbruch des Vesuv am 26. April 1872 dokumentierte Sommer in einer Serie von Bildern, die im Abstand von jeweils einer halben Stunde entstanden. Fünf Aufnahmen sind in der Ausstellung zu sehen.

Nicht nur dolce far niente

Neapel und der Süden Italiens, oft besungen, gemalt, gezeichnet. Beladen mit Klischees vom sonnigen Süden und einer vom Klima begünstigten üppigen Natur, vom dolce far niente, aber auch von Armut, Gewalt und krimineller Organisation, die hier, weitab von Rom, vielleicht besonders gut gedeihen konnte.

Calvert Richard Jones, Mole mit Blick auf St. Castel S. Elmo Neapel (Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen/Sammlung Siegert)

Schon früh bereisten Fotografen aus England, Frankreich und Deutschland diesen Landstrich, um am Golf von Neapel, in Kampanien und auf Sizilien ihre Bilder zu machen. Italienische, vor allem aber auch einheimischen Fotokünstler kamen bald dazu.

Die Ausstellung zeigt 120 Fotografien von 20 verschiedenen Fotografen, die zwischen 1846 und 1900 entstanden. Pioniere der Fotografie wie Calvet Richard Jones, Gustave Le Gray oder Charles Nègre sind vertreten. Die Zeitspanne von mehr als 50 Jahren, die von der Schau umfasst werden, verdeutlicht die Veränderung der Betrachtungsweise weg von einer noch von Malerei und Zeichnung beeinflussten, romantisierenden Sicht hin zu einer sachlichen Fotografie, die dokumentiert, Wissenschaften unterstützt und auch der aktuellen Information dient.

Es entstand das Berufsbild des Fotoreporters. Die Bildermacher reisten mit schwerem Gepäck zu jener Zeit. Roll- oder Kleinbildfilm waren weit weg, der Begriff "digital" existierte nicht. Die Ausrüstung bestand aus wuchtigen Glasplatten-Kameras, Holzkonstruktionen unterschiedlicher Größe für verschiedene Formate, die auf drei Beinen aufgestellt wurden. Reihenaufnahmen gab die Technik nicht her, für jede Aufnahme musste die Platte umständlich gewechselt werden. Das Verfahren von der Aufnahme bis zur Entwicklung der Bilder war aufwändig und teuer, sodass schon der erste Schuß sitzen musste. Schnell konnte nur der sein, der Pferd oder Esel zum Transport des Equipments und Assistenten für die eiligen Einrichtungen vor Ort zur Verfügung hatte.

Giuseppe Incorpora, Kapuzinergruft in Palermo, um 1875 (Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen/Sammlung Siegert)

Bedeutende Architekturaufnahmen sind zu sehen, wie das Kleinod des 1846 entstandenen Fotos des Doms von Syrakus von George Wilson Bridges. Verschiedene Künstler haben die Grabungsstätten von Pompeji dokumentiert, von Charles Nègre ist das Bild "Mädchen aus Kalabrien mit Korb" von 1852 zu sehen, dem neben dem Abzug auf Salzpapier das Papiernegativ gegenüber gestellt ist - ein beeindruckendes Dokument der Technik.

Ein Frankfurter wurde der Fotostar in Neapel

Schwerpunkt der Ausstellung bildet das umfangreiche Oeuvre des Fotografen Giorgio Sommer. 1834 in Frankfurt am Main geboren, hatte er zunächst eine kaufmännische Lehre absolviert, bevor er sich dem neuen Medium der Fotografie zuwandte. 1856 geht er nach Italien, eröffnet 1857/58 in Neapel ein Fotostudio, das schnell zu dem erfolgreichsten der Stadt wird. Ein Panoramabild von Neapel ist zu sehen, das aus fünf aneinandergefügten Einzelbildern besteht, denn Panoramafotografie gab es noch nicht. Beklemmend die Aufnahme des 79 n. Chr. bei dem Ausbruch des Versuv in Pompeji verreckten Hundes in einem Abdruck, der den Körper verkrümmt und verdreht zeigt.

Auch die 1870 entstandene Serie von Opfern der Katastrophe müssen erschüttern. Die Bilder zeigen Abformungen von Menschen. 1863 ließ der Architekt Giuseppe Fiorilli die unter den Ascheschichten begrabene Stadt Pompeji mit Zement ausgießen und erhielt dadurch Abdrücke von Pflanzen, Tieren, Menschen und Einrichtungen der Häuser. Die Bilder haben neben dem Dokumentarischen auch etwas von einer Frühform des Sensationsjournalismus. Auch Werbung war Sommer nicht fremd. Mit den Aufnahmen der Kapuzinergruft in Palermo, in der zahlreiche Verstorbene aufgestellt sind, dokumentierte er schon 1875 eine Touristenattraktion. Das 1880 entstandene Foto der Gastwirtschaft "Zum Kater Hiddigeigei" auf Capri mit dem direkt daneben aufgemachten "Anglo-American Store" zeigt, wie schnell man sich dort auf den aufkommenden Fremdenverkehr eingestellt hat.

Krieg und Katastrophen

Luigi Sacchi, Palermo nach der Einnahme durch die Truppen Garibaldis am 29. Mai 1860 (Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen/Sammlung Siegert)

Eine frühe Form der Fotoreportage liefern die Bilder, die Luigi Sacchi nach der Einnahme Palermos durch die Truppen Garibaldis am 29. Mai 1860 aufgenommen hat. Zerstörungen, Verwüstungen allerorten, inmitten der in der Ausstellung gezeigten Fotos ein Portrait des Widerstandskämpfers, aufrecht und stolz. Schon da heiligte der Zweck die Mittel. Auch die Aufnahmen von Paul Marcellina Berthier nach dem Ausbruch des Ätna am 1. März 1865 imponieren. Sie reportieren nicht nur das aktuelle Ereignis, sondern spielen geschickt mit dem Kontrast zwischen dem schwarzen Vulkangestein und der weißen Asche, die sich den Hang hinab über die verkohlten Bäume zieht.

Die Neue Pinakothek präsentiert eine beeindruckende zeitgeschichtliche Dokumentation in Fotografien. Das Gezeigte ist heute nicht mehr so. Aus Neapel, Palermo und sonstwoher erreichen uns andere Bilder. Die Ausstellung zeigt, wie es einmal war und heute nicht mehr ist. Oder doch - irgendwie?

 

Bis zum 26. Februar 2012 in der Neuen Pinakothek in München, täglich außer Mo. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr.

 

 

Veröffentlicht am: 30.11.2011

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