München würdigt 50 Jahre Schwabinger Krawall

Protest, Polizeispiele, Gitarren und Gummiknüppel - Zeitzeugen berichten

von kulturvollzug

Fünf Musiker in einer Sommernacht am Schwabinger Wedekindplatz. Heute erinnert nichts mehr an das, was hier von 50 Jahren losgetreten wurde (Foto: Achim Manthey)

Mit den Schwabinger Krawallen begann vor 50 Jahren der zivile Ungehorsam. In München gibt es dazu ein umfangreiches Veranstaltungs-Programm. Und unser Autor Karl Stankiewitz, Jahrgang 1928, hat nachgeforscht was von den Unruhen bis heute nachwirkt.

Der Sommer kam mit drückender Hitze; sie lag noch bei Dämmerung und Dunkelheit über der Stadt, die sich kurz zuvor den Werbekosenamen "Weltstadt mit Herz" zugelegt hatte. Schwabing, das Amüsierviertel, war mit Menschen gefüllt in jener Nacht zum 21. Juni 1962. Auf dem kleinen Platz, der nach dem rebellischen Diechter Frank Wedekind benannt ist, spielten fünf Gitarristen; junge Leute standen herum und freuten sich. Aber einer der Anwohner rief bei der Polizei an und beschwerte sich über Ruhestörung. Die Funkstreife fuhr vor.

Drei Musikanten wurden in den Wagen gezerrt, unter dem Gejohle der Menge und unter Einsatz von Gummiknüppeln. "Die Menschen konnten es einfach nicht einsehen, warum wir jetzt weg müssen", erinnert sich Wolfram Kunkel, einer der drei festgenommenen Musikanten, in einem aktuellen Interview mit dem "Gaudiblatt", einer Münchner Gratiszeitung. Umstehende schaukelten das Polizeifahrzeug ein bisschen und versuchten, die Türen aufzumachen. "Die Bullen haben natürlich Schiss gekriegt und Verstärkung gerufen. Irgendwer hat dann die Funkantenne abgebrochen."

So begannen, buchstäblich aus heiterem Himmel, die sogenannten "Schwabinger Krawalle": der erste große Jugendprotest in der Bundesrepublik Deutschland mit tiefgreifenden sozialen Folgen. Ganz so heiter war der weißblaue Himmel aber bereits nicht mehr: Schon Anfang Juni 1962 war es bei einem Jazzkonzert an der Uni zu Rempeleien mit der Polizei gekommen, weil die Musiker im Freien weiterspielen wollten.

Schon Anfang Juni 1962 kam es an der Uni zu ersten Rempeleien mit der Polizei (Foto: Achim Manthey/Archiv)

Dies war nur ein Vorspiel der wilden Schwabinger Nächte, die wieder nur das Präludium für die große Protestbewegung der späten 1960er Jahre waren. Die Ereignisse vom Sommerbeginn liefen ab wie eine unkontrollierte Kettenreaktion. Am Tag nach den Geschehen am Wedekind-Brunnen - das fromme München erlebte Fronleichnam, Zeitungen erschienen nicht - verbreiteten sich Gerüchte über den Vorfall, zunächst nur in der Umgebung. Nun wollten es die Schwabinger den "Bullen" aber doch mal zeigen.

Bald tanzten und sangen einige hundert junge, aber auch nicht mehr ganz so junge Leute auf dem breiten, sogenannten "Boulevard Leopold" zum Open-Air-Konzert von Gitarrenspielern. Wieder beschwerte sich ein braver Bürger über den Lärm. Nun waren es schon zwei Funkstreifen, die zum Tatort eilten, einem wurden die Reifen durchstochen. Großalarm! Jetzt heulten Sirenen, jetzt blitzten Blaulichter. Weitere Polizeiwagen brausten durch Schwabing, das Überfallkommando schwärmte ausw, Zeiserlwagen wurden bereitgestellt, Knüppel geschwungen, Gläser und Flaschen geworfen (wenn auch noch keine Molotow-Cocktails wie sechs Jahre später). Rufe wie "Gestapo" und "Polizeistaat" verunsicherten manche Ordnungshüter. Der Verkehr wurde völlig lahmgelegt.

Noch blieben die Pflastersteine am Boden (Foto: Achim Manthey)

Es brach Panik aus, verursacht durch die polizeiliche Taktik. Krawall-Kumpel Kunkel erinnert sich: "Dann kamen Reiterstaffeln, die sind sogar ins Café Schwabinger Nest reingeritten. Die Leute sind in Kneipen geflüchtet, aber die Bullen sind auch da reingekommen und haben jedem, der hinten rauskam, eins mit dem Knüppel übergezogen. Jeder Polizist hat mal zugehauen, wirklich jeder."

So ging es weiter, fünf heiße Nächte lang. Die Einsätze der damals noch kommunalen Polizei, die Empörung und der Widerstand einer von weither zusammenlaufenden Menge - alles eskalierte. Da flogen nun auch Plastersteine und Stinkbomben. Wahllos wurde auf völlig Unbeteiligte eingeprügelt, beispielsweise auf den Direktor des Stadtjugendamtes. Bis zu 30 Polizeiwagen waren gleichzeitig im Einsatz. Die genaue Zahl der Verletzten auf beiden Seiten und der vorläufigen Festnahmen wurde offiziell nie bekannt.

Berittene Beamte benutzten die Leopoldstraße wie Cowboys eine Prärie voller Rinderherden. Die Volksseele kochte. Die Obrigkeit sah sich in die Enge gedrängt und bloßgestellt durch die in der ganzen Republik kolportierten "Polizeispiele". Am Sonntag rief Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, erst 36 Jahre als und seit zwei Jahren im Amt, eine Krisensitzung kommunaler Gremien ein, die das bisherige Vorgehen der Polizei billigten und einem Aufruf an alle Bürger zustimmten, sich von den Unruhestiftern zu distanzieren. Doch die Stürme verebbten erst am übernächsten Abend, als der große Regen kam.

Und dann war die Justiz mit der Aufarbeitung dran (Foto: Achim Manthey/Archiv)

Dann kam die große Abrechnung. Monatelang glich das Münchner Amtsgericht einem Revolutionstribunal. Strafverfahren liefen gegen 239 Zivilpersonen und gegen 131 Polizeibeamte, von denen aber die meisten eingestellt wurden. Ebenso wie die Ermittlungsverfahren gegen Oberbürgermeister Vogel und die polizeilichen Einsatzleiter wegen Beleidigung und Begünstigung im Amt.

Bis zu vier Anklagen wegen Auflaufs und Aufruhrs, Landfriedensbruchs, Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt waren täglich zu verhandeln. Die Prozess-Serie, genannt "Schwabinger Spätlese", endete nach einem Jahr mit insgesamt 2918 Tagen Haft für Bürger ohne und 372 Tagen für Bürger in Uniform. Ein Verfahren über die Rechtsmäßigkeit der Polizeieinsätze ging gar erst im Juni 1971 zu Ende; das Bundesverwaltungsgericht in Berlin gab der Stadt München Recht.

Bis in den Herbst hinein hagelte es Kritik und Vorwürfe gegen Stadtverwaltung und Polizei. Die Gummiknüppel hatten offenbar mehr unbeteiligte Passanten getroffen als wirkliche Randalierer. Einige der Getroffenen, darunter der Stadtjugendamts-Direktor Seelmann, lagen wochenlang krank zu Bett. Ein Kunststudent, dessen Kniescheibe zertrümmert wurde, musste mit lebenslanger Invalidität rechnen. "Leute, die abhauen, schlägt man nicht mit Knüppeln," entrüstete sich sogar der Präsident der Bayerischen Bereitschaftspolizei, Josef Remold, der aus der Weimarer Zeit einige Erfahrungen im Niederschlagen von Unruhen hatte. Jeder Polizeischüler lerne doch, dass der Einsatz von Schlaginstrumenten erst an sechster Stelle rangiert. Und auch dann dürfe nie auf den Kopf geschlagen werden. Auch Alexander Meyer, im Innenministerium für die Öffentliche Sicherheit zuständig, kritisierte, die Münchner Stadtpolizei habe "nicht den psychologischen Ton gefunden".

Schwer schien das Verhältnis zwischen Bürgerschaft und Polizei zerrüttet. Mühsam wurde es von Grund her neu aufgebaut. Schon im März 1963 begann die noch städtische Polizei, unter dem Eindruck der außer Kontrolle geratenen Krawalle nicht nur psychologisch aufzurüsten. Die Strategen der öffentlichen Sicherheit, die Erfahrungsberichte aus aller Welt einholten, schafften auch einen zweiten Wasserwerfer an, der nicht mehr, wie in Schwabing, wegen der Straßenbahnoberleitung und fehlender Hydranten außer Gefecht zu setzen war. Sie überlegten schon, ob man daraus auch Tränengas schießen könnte. Und sie ließen automatische Kameras und Tonbandgeräte auf die Polizeiwagen montieren, um "Störer" besser in den Griff zu bekommen.

Gedenken muss sein (Plakat: Veranstalter)

"Schwabing war die Geburtsstunde der sogenannten Münchner Linie", schrieb der damals viel gescholtenene Vogel, seine Fehler eingestehend, zehn Jahre später in seinem Buch "Die Amtskette". Der forsche Polizeipräsident Anton Heigl wurde durch den auch erst 37 Jahre alten Kripo-Chef Manfred Schreiber ersetzt. Schreiber, damals noch SPD-Mitglied, leitete eine durchgreifende Reform ein, baute den ersten polizeipsycologischen Dienst in Deutschland auf, schickte alle seine Beamten regelmäßig zu Fortbildungslehrgängen, schrieb selbst einen "Knigge" zum Umgang mit den Bürgern und predigte "menschlichen Kontakt, weniger Perfektion und etwas mehr Herz". Alle müssten jetzt umdenken, um die Reste des Obrigkeitsstaates zu überwinden. Eine "Interessengemeinschaft zur Wahrung der Bürgerrechte" half nach Kräften kritisch mit. Die "Münchner Linie" wurde Vorbild vieler Polizeien in der Bundesrepublik.

Gleichzeitig begann mit den "Schwabinger Krawallen" eine tiefgreifende Veränderung des politischen Bewußtseins und der politischen Strukturen. "Wahrscheinlich war es - wenn man von den reinen Rowdies absieht - zumindest bei den Jüngeren doch schon ein unartikulierter Protest gegen die Wohlstandsgesellschaft und das Wirtschaftswunder, das Bedürfnis, gegen irgendetwas, das allzu glatt und problemlos zu laufen schien, Widerstand zu leisten." So empfand es der sensible Vogel, den die Ereignisse von damals für über drei Monate aufs Krankenlager geworfen hatten. Vielleicht werde man später einmal sagen, in Schwabing habe zum ersten Mal die humane Stadt gegen die ökonomische Stadt rebelliert.

Karl Stankiewitz

Dem Jubiläum der "Schwabinger Krawalle" sind mehrere Veranstaltungen gewidmet:

Am 17. Juni 2012 ab 20 Uhr zeigt der Kurt-Eisner-Verein in der Dachauerstraße 114 (Toberaum) drei Kurzfilme mit Originalaufnahmen, im Anschluss Diskussion.

www.by.rosalux.de/event/46256/50-jahre-schwabinger-krawalle

Am 19. Juni 2012 führt Gerhard Fürmetz, Archivar im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, zu den Originalschauplätzen vom Juni 1962. Treff: Wedekindplatz 119. Der Historiker Fürmetz hat 2006 ein Buch über die Krawalle herausgegeben, in dem er bilanziert: "Die Vorgänge verdeutlichten damals, dass sich in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft zwischen einer sich emanzipazierenden Generation und einer noch auf Repression geschulten Obrigkeit ein Konfliktpotential angesammelt hatte."

www.by.rosalux.de/event/46255/50-jahre-schwabinger-krawalle

Am 21. Juni 2012 beginnt um 18 Uhr auf der Münchner Freiheit ein Gedenkabend mit den Straßenmusikern von damals, den "Sparifankal 2" und dem "Einstürzenden Musikstadl". Zu den fünf Veranstaltern gehört auch der Bezirksausschuss Schwabing-Freimann.

www.gaudiblatt.de

Das Filmmuseum zeigt Filme zum Thema und lädt zu einer Diskussionsrunde u.a. mit dem ehemaligen Münchner OB Hans-Jochen Vogel ein: am Do. 21. Juni 20122 um 19.00 Uhr in der „Open Scene“ (Reservierung unter Tel. 089/ 233 96450, der Eintritt kostet 5 / 4  Euro für Mitglieder des Fördervereins MFZ).

Unser Autor Karl Stankiewitz geht in seinem 2010 im Volk Verlag erschienenen "Weiß-blauen Schwarzbuch" auch auf die politischen Folgen der Schwabinger Krawalle ein: "In der Herbstwahl nach den Unruhen, die so viele Bürger verschreckten, gewann die CSU erstmals die absolute Mehrheit. Franz Josef Strauß, aus Bonn geschieden, wurde als Parteichef bestätigt und seine engsten Widersacher los, den liberalen Eberhardt und den katholischen Guttenberg. Schon schleuderte er erste Pfeile gegen seine Gegenspieler wie den Bonner Außenminister Schröder und gegen die ,Aufweichpolitik' der Amerikaner", so Stankiewitz in seinem Buch.

 

Veröffentlicht am: 18.06.2012

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Zukunftswerkstatt Hochschule
21.06.2012 16:11 Uhr

Auf dem Blog der Zukunftswerkstatt Hochschule (ein ehrenamtliches studentisches Projekt) haben zwei junge Studierende aus Bayern anlässlich des Jubiläums der Schwabinger Krawalle reflektiert: wie steht es um das Politikinteresse und die Protestkultur ihrer Generation? Ist es besser oder schlechter als 62? Was können junge Studierende heute noch aus dem Ereignis ziehen? Reinlesen lohnt sich: http://zukunft-hs.de/die-jugend-von-heute/ und http://zukunft-hs.de/der-wohlinformierte-andere-gedanke/