Erinnerung an SZ-Autor Claus Heinrich Meyer

Als Journalismus noch eine Zumutung sein wollte

von Michael Grill

"c.h.m.", gezeichnet von Cornelia von Seidlein.

Der Journalismus ist ein weinerliches Gewerbe, das der Welt stets ihre Wehleidigkeit vorhält, aber selbst nichts sicherer weiß, als dass früher alles besser war. Einer, der selbst nicht so dachte, aber im Rückblick wie wenige andere für die guten Tage des deutschen Nachkriegsjournalismus steht, war Claus Heinrich Meyer (1931 - 2008), der jahrzehntelange "c.h.m." der Süddeutschen Zeitung. Wenn man heute seine (nun in Buchform erschienenen) Texte wieder liest wundert man sich: Dass so etwas überhaupt möglich war. Und man ahnt: Dass wohl tatsächlich manches besser war. An diesem Samstag (15.9.12) wird an "c.h.m." bei der "Nacht der Autoren" erinnert.

Ein Selbstauslöserbild. Foto: Archiv CvS

Die Frage ist: Wo würde ein Claus Heinrich Meyer heute schreiben? Hätte jemand wie er, der mit Sprache und Persönlichkeit aus der Reihe fiel, noch irgendwo einen Platz im deutschen Journalismus? Und was würde eine "Süddeutsche" antworten, wenn heute ein junger Claus Heinrich Meyer um eine Neuanstellung anfragte? Andererseits: Gäbe es für ihn überhaupt noch ein Publikum? Wenn ja, warum gibt es dann weit und breit keinen neuen "c.h.m."? Und wenn nein, läuft dann etwas falsch im Gewerbe?

Oder, ganz anders: War es nur eine Illusion, und ein breites Publikum für Meyer hat es nie gegeben, was nur deshalb nicht auffiel, weil in der Zeit vor dem großen Netz so gut wie nicht festgestellt werden konnte, ob oder wie ein einzelner Text in einem gedruckten Massenmedium gelesen wurde? Es wäre nicht das erste Mal, das eine Legende sich aus dem Nichts entwickelt. Dagegen spricht in diesem Fall aber mindestens, dass Meyer von Lesern so sehr vermisst wird, dass noch Jahre nach seinem Tod die SZ seine Texte in Buchform herausbringt und zu einer Lesung zu seinen Ehren in einen der größten Säle der Münchner Residenz einlädt.

Claus Heinrich Meyer stammte aus einem Pastorenhaushalt im Ruhrgebiet, er war ins gerade durchzudrehen beginnende Nazideutschland hineingeboren worden, wurde kinderlandverschickt an die Elbe, er war ein "Kind der deutschen Katastrophe", wie der heutige Chefredakteur Kurt Kister im Nachruf 2008 schrieb. Zeit seines Lebens war ihm bewusst, wie der Untergang eines 3. Reiches sich angefühlt hatte, und wie bleischwer und federleicht zugleich die Zeit unmittelbar danach gewesen ist. 1964 kam er zur SZ, eine eigentlich längst ausgebildete Künstlernatur, die in dem Schreiberbiotop an der Sendlinger Straße aber erst richtig aufgehen konnte - fast schon in der Tradition jener "Nordlichter", die der bayerische König Max II. Mitte des 19. Jahrhunderts an die Isar holte, auf dass sie zum Ruhme der Residenzstadt besonders zu leuchten begannen.

Er schrieb wahrlich ungewöhnlich. (Das gilt übrigens auch für seine Fotografie, die zu würdigen ein eigenes Thema wäre.) In dem jetzt vorliegenden Sammelband mit Texten von "c.h.m." merkt Meyers langjähriger Kollege und damaliger Chefredakteur Gernot Sittner an: "Zum ,Überfliegen' eignen sich die meisten Texte, die Claus Heinrich Meyer für die SZ schrieb, in der Tat nicht. Wie er selbst bekannte, hat er seinen Lesern einiges abverlangt an Zeit und Konzentration."

Als Beleg dienen hier zwei Sätze aus Meyers kleinem Selbstporträt, das er einige Jahre vor seinem Tod geschrieben hatte: "Als innenpolitischer Leitartikler schlug er ungeachtet seiner sonstigen künstlerischen Verspieltheit eine scharfe Klinge, er war nicht nur ein ,geborener Stilist', sondern ein ebensolcher Polemiker - und hatte aus Bonn das idealistische Credo mitbekommen, durch heftiges publizistisches Tun so viel wie möglich zur demokratischen Erziehung des Volksganzen beizutragen: weil doch jedermann sehen und fühlen konnte (und erlebt hatte), dass von ,Sowas' eben ,Sowas' gekommen war; Meyer war sicher, Zeit seines Lebens keine Nazis mehr sehen und erleben (erlegen) zu müssen. Sein größter, peinigender Irrtum." - Was für ein Rhythmus, was für ein Fluss, was für eine Unverschämtheit, eine Zumutung gegenüber dem heutigen an mundgerechte Servicehappen gewöhnten Contentsucher, eigentlich auch schon gegenüber den Lesern in der Vornetzzeit.

Ich erinnere mich an Claus Heinrich Meyer als einen Kollegen, vor dem wir damals (in den mittleren 90er Jahren, ich war ein junger SZ-Redakteur im Lokalen) soviel Respekt hatten, dass unsere Ehrfurcht schon wieder in Angriffslust umschlug. (Meyer schrieb übrigens ständig Klammern und Semikola in seine Texte, was uns überaus suspekt war, ebenso wie sein unablässiger Gebrauch des "Ich" als Erzählposition; der Gegenpol dazu war das "Wir" des weitaus konsensfähigeren Herbert Riehl-Heyse.) Wir sahen ihn meist in Konferenzen, wo er wenige, aber dafür umso genauere Worte beisteuerte und deren Wirkung durch das permanente Bewegen seiner Brillen (es schienen uns immer mehrere zu sein, er schob sie im Gesicht hin und her, andere lagen vor ihm auf dem Tisch) noch zu unterstreichen verstand (siehe hierzu auch Anmerkung 1 am Ende des Textes). Es war die Zeit des heraufziehenden Pop-Journalismus, und Meyer fand diesen furchtbar. Weder er noch wir wussten damals, dass er in Wirklichkeit selbst ein Pop-Schreiber war, nur halt viel besser als die anderen, die jüngeren. Er war ein Popstar, ohne es zu wissen. Ohne dass es jemand wusste.

Am seltsamsten erschien uns seine hartnäckig durchgehaltende Verwendung von Versalien als Stilmittel (nicht nur im Streiflicht!): Warum macht der das, warum lässt man ihn das machen? Ich erinnere mich, im Kreise von uns postpubertären Nachwuchskollegen einmal den mäßig witzigen Scherz gemacht zu haben, man sollte "dem Meyer" doch mal die Umschalter-Taste auf seiner Tastatur sperren, um zu schauen, ob dann überhaupt etwas im Streiflicht stünde am nächsten Tag.

Wie man ihn kannte: Ein Schreiber mit der Kamera in der Hand. Foto: Achiv CvS

So war das. Damals. Und ich erinnere mich, eines Tages eine (natürlich) seitengroße Reportage von Claus Heinrich Meyer in der SZ am Wochenende über seine Heimatstadt Essen angelesen zu haben. Erstmal nur anlesen. Um dann doch aber so was von hängengeblieben zu sein in dem Text, ihn mit immer atemloseren Staunen bis zum Ende gelesen zu haben, immer demütiger werdend angesichts dieser Genauigkeit, Sensibilität, Souveränität.

Noch einmal Kurt Kister aus dem Nachruf von 2008: "Rein betriebswirtschaftlich gesehen werfen Autoren wie chm wenig Erlös ab. Man kann ihre Existenz und Weiterbeschäftigung über die Pensionierung hinaus nicht mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung begründen. Intellektuell aber, ganz zu schweigen vom Vergnügen des Lesens, hat Claus Heinrich Meyer für diese Zeitung langfristig eine Rendite erbracht, von der jede Heuschrecken-Holding träumen würde."

Gegen diese Erkenntnis stellen sich immer mehr Brachen-Nachrichten wie diese aus dem Jahr 2012: Textunternehmer in den USA lassen Lokalnachrichten in Schreibfabriken auf den Philippinen herstellen. Wissenschaftler arbeiten daran, journalistische Texte komplett von Computern generieren zu lassen. Die noch vorhandenen Menschen-Journalisten haben immer häufiger ein Existenzproblem, da niemand mehr für ihre Arbeit einen angemessenen Lohn bezahlen will.

Im SZ-Buch mit den Meyer-Texten findet sich auch die redaktionsintern recht berühmten "Meyers Vorletzte Verbote", die er im Jahre 2006 für seine Kollegen notierte. Sie beginnen mit "No Liedgut" und "No Ansprache", und dann kommt nach vielen weiteren "No" -  "No Würdigung". Das hatte Meyer mit Sternchen versehen, die zu folgendem Hinweis führten: "etwa: ..unser gelegentlicher Mitarbeiter c.h.m.. begeht in lächerlicher Frische seinen runden Geburtstag; die meisten jüngeren Kollegen allerdings kennen ihn nicht, resp. ist es ihnen ebenso ein Rätsel, wie sich unsere Leser immer wieder von Meyer ärgern lassen...." Was für ein Wahnsinn an Interpunktion, was für eine Mischung aus Intellektuellensprache und Slang, dazu Abkürzungen, die jedem Journalistenschüler (mit Recht!) als Todsünde ausgetrieben werden...

Claus Heinrich Meyer, schrieb Kurt Kister, "zählte zu jenen Journalisten, ohne die die Süddeutsche Zeitung nicht geworden wäre, was sie ist". Er war einer, kann man hinzufügen, bei dem man nicht wusste, wo der Journalist aufhört und wo der Literat anfängt. Im Unverstandensein hatte er Größe, im Verstandensein Genie.

Damals. Und heute? No Meyer.

Bei der von der Süddeutschen Zeitung veranstalteten "Nacht der Autoren" an diesem Samstag (15. September 2012) erinnern Kurt Kister und Gernot Sittner an "c.h.m.": von 20 Uhr an im Max-Joseph-Saal der Residenz.

Das aktuelle Buch aus der Süddeutsche Zeitung Edition "c.h.m." mit Essays, Glossen, Reportagen, Fotografien kostet 24,90 Euro und ist erhältlich im Shop der SZ oder bei amazon.

Anmerkung 1 zur markierten Stelle im 7. Absatz (eingefügt am 19.9.12, 14.50 Uhr): Der Autor wurde darauf hingewiesen, dass diese Passage missverstanden werden könnte. Er möchte deshalb folgendes klarstellen: Claus Heinrich Meyer war am sogenannten Juvenilen Altersstar erkrankt und zeitweilig nahezu erblindet. Nach vielen Operationen war seine Sehkraft nur geringfügig besser geworden; er blieb auf mehrere Brillen angewiesen und konnte trotzdem nur sehr stark eingeschränkt sehen. Dies war dem Autor beim Schreiben des Textes bekannt; die Schilderung der Konferenzsituation soll die oft viel zu schnoddrige Haltung der jungen Kollegen gegenüber "c.h.m." illustrieren. (gr.)

 

Veröffentlicht am: 14.09.2012

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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