Interview mit Dirk von Lowtzow von Tocotronic

Dreamyness vom Erdbeerbär, elegant wie Bryan Ferry

von Michael Grill

Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut. Foto: Michael Petersohn

Er ist irgendwie klug, er ist süß wie ein Teenie-Star, er ist angemessen eitel und er antwortet ausführlich und höflich. Dirk von Lowtzow fordert im Interview mit dem Kulturvollzug die schwarz-braune Haselnuss Heino auf, Songs seiner Band Tocotronic zu covern: "Es wäre an Absurdität nicht zu überbieten, ich fände das super!" Er hat das neue Album "Wie wir leben wollen" im Gepäck und spricht vor dem Münchner Konzert über das Grundrauschen in seiner Musik, den Rechtfertigungsdrang der Über-40-Jährigen und die Frage, wann er reif für die Theaterbühne ist.

 

Herr von Lowtzow, das neue Album "Wie wir leben wollen" von Tocotronic ist eine so elegante wie vergiftete Harmlosigkeit. Richtig?

 

Dirk von Lowtzow: Mit dem Wort "harmlos" habe ich meine Probleme, denn harmlos sollte Rock- oder Popmusik niemals sein. Mit dem Begriff "elegant" kann ich mich dagegen sehr gut identifizieren. Das klingt nach Bryan Ferry, das finde ich schön.

 

Der Abgrund lauert unter der Oberfläche?

 

Selbstverständlich. Das ist doch meistens so in der Kunst: Wenn es nicht verschiedene Layers oder Schichten gibt, zu denen man vordringen kann, dann fehlt was. Es muss mehrdimensional funktionieren. Und ein grundsätzliches Kriterium, das gesungene Wörter für mich erfüllen müssen, ist die Ambivalenz.

 

Aber eine ganze Generation von Tocotronic-Hörern hat die früheren Alben im Kopf und fragt sich: Warum jetzt so verkünstelt und gleichförmig? Geht's nicht mehr unmittelbar, lauter?

 

Wie man das sieht, muss wirklich jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Ich empfinde das Album als sehr abwechslungsreich. Es sind sehr verschiedene Musikstile drauf versammelt, es ist außerdem sehr lang. Ich hatte eher befürchtet, so mancher könnte damit überfordert sein. Natürlich gibt es einen roten Faden, auch soundmäßig, alles ist mit allem verbunden. Sonst würde das Album auseinanderfallen und wäre nur noch ein Kessel Buntes – das will man ja nun wirklich nicht.

 

Tocotronic stand wie kaum eine andere deutsche Band für die Spannung zwischen dem sehr Lauten und dem sehr Leisen, zwischen Eruption und retardierendem Moment. Auf dem neuen Album dauert es bis zu Track Nummer 12 - "Warm und grau", bis man einen kleinen Energieausbruch zu hören bekommt.

 

Dieses Album steht einfach für eine andere Art von Musik. Das Leise und Laut, diese spezielle Form von Dynamik hat uns hier in der Tat nicht interessiert. Auf den neun Alben davor haben wir das Thema schon intensiv beackert.

 

Das kann man wohl sagen!

 

"Wie wir leben wollen" steht dagegen für: Verwaschungen, Diffusitäten. Dreamyness! Eine Art Grundrauschen, das von Anfang bis Ende da bleibt. Es soll uns allen ja nicht langweilig werden.

 

Sie haben sich offenbar schon häufiger für das Album rechtfertigen müssen?

 

Nööö! Aber es ist viel mehr Banane als man glauben mag: Mal habe ich einfach Bock so eine Musik zu machen – und mal so eine.

 

Besten Dank, dass Sie trotzdem drüber reden.

 

Ich habe wenig Verständnis für Musiker, die sich weigern bestimmte Fragen zu beantworten, weil sie diese vielleicht als quälend empfinden. Wenn ich über ein neues Album professionell reden muss, empfinde ich manche Rituale oder Wiederholungen schon auch als quälend. Ich bin aber gut erzogen.

 

Dafür befürchtet wohl so gut wie jeder, der Ihnen gegenübertritt, dass man nur hochphilosophische Fragen stellen darf, denn Sie gelten als Prototyp des Rock-Intellektuellen.

 

Ja, den Effekt kenne ich. Aber das ist wohl vor allem ein Problem der Generation, der ich selbst angehöre, also Menschen um die 40. Wenn ich mit 20-Jährigen rede, fangen die erst gar nicht so an. Denen ist es völlig egal, ob das intellektuell oder feuilletonistisch oder sonst was ist – die finden einfach die Musik geil. Meiner Meinung nach haben jüngere Generationen nicht diesen Rechtfertigungsdrang, weil sie mit einer grundsätzlich hochwertigeren Musik aufwachsen als vielleicht Leute wie Du oder ich.

 

Trotzdem: So wie Farin Urlaub von den Ärzten ganz grundsätzlich für ironisch gehalten wird, stehen Sie fürs Intellektuelle.

 

Ich kann mit dem Wort "intellektuell" nicht viel anfangen. Ich möchte Menschen nicht in wissende und unwissende einteilen. Ich weiß, dass diese Sitte speziell in Deutschland weit verbreitet ist, wie auch die Neigung zu jedem Thema etwas zu sagen, auch wenn man keine Ahnung hat – solange man als Intellektueller gilt. Da spreche ich doch lieber ein Lob der Torheit aus.

 

Ist es nicht so, dass man gerade Ihre aktuellen Texte sowieso nur schwer interpretieren kann, da die Wörter von Anfang an festgefügt und unverrückbar scheinen? Ein "Erklären Sie doch mal" oder ein "Wie meinen Sie das" wirkte sinnlos und überflüssig.

 

Das ist bei uns tatsächlich ein strukturelles Problem. Es ist genau so wie Sie es beschreiben: Die Wörter in den Liedern haben ihre endgültige Form gefunden und es ist sehr überflüssig darüber zu reden. Andererseits traut man sich in der Liedform Dinge zu sagen, die man anders nicht sagen würde. Viele der neuen Texte sind sehr abgründig, geradezu destruktiv.

 

Das Album eröffnet im Lied "Im Keller" mit dem Satz "Jetzt bin ich alt". Wen hören wir da?

 

Wir waren als Band immer sehr ehrlich darin, unseren jeweiligen Befindlichkeitsstatus offen auszuplaudern. Und so wie wir mit 22, 23 gesungen haben "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", ist es jetzt einfach richtig und angemessen, dass wir davon sprechen, dass man im Kontext der Rockmusik mit über 40 schon alt ist. Außerdem, bitte nicht vergessen: Ein Rockjahr ist wie sieben Menschenjahre.

 

Aber ihre Stimme klingt weiterhin verdammt jung. Haben Sie ein Geheimmittel?

 

Aber in München leben? Warum den nicht!, sagt zumindest der Mann ganz links auf dem Bild. Foto: Sabine Reitmeier

Nein, das nicht. Aber ich finde es wichtig, das Alters-Thema offen auszusprechen. Es geht mir um den Aspekt, dass es doch eine schöne Perspektive sein könnte ersetzt zu werden. Man kann sich sogar durch sich selbst ersetzen. Man kann auch seine Stimme verändern. Ich glaube, dass es möglich ist, auch als über 40-Jähriger mit einer kindlichen oder jugendlichen Stimme zu singen. Es ist wichtig und richtig, dass man Kind sein kann. Aber auch, dass man Greis sein kann. Oder einfach nur: Dass man gut sein kann. Ich misstraue grundsätzlich dem Konzept der Identität. Das ist etwas, das in den letzten 20 bis 30 Jahren mit dem aufkommenden Neoliberalismus so ungemein wichtig geworden ist: Identität. Das Schlagwort dieser scheußlichen Geisteshaltung ist ja das "Be yourself". Man muss immerzu sich selber sein, koste es was es wolle, und diese Identität verkörpert man dann voll und ganz, und man muss sie in alles einbringen was man macht. Das ist die perfideste Ideologie überhaupt, ich verabscheue das mit ganzer Kraft.

 

Da hat offenbar Frank Schirrmacher mit seinem Buch "Ego" noch einen Leser mehr gefunden?

 

Mit Frank Schirrmacher möchte ich bittesehr nicht belästigt werden. Wie verabscheuungswürdig die Identitäts-Ideologie ist, haben schon viele Jahre vor Schirrmacher ganz andere erkannt. Der Mann ist einfach ein ganz großer Selbstvermarkter.

 

Um das Reizwort Schirrmacher noch zu toppen: Finden Sie Heino jetzt auch so unglaublich cool?

 

Ich finde Heino ähnlich interessant wie Frank Schirrmacher, und umgekehrt.

 

Die Sache mit Heino ist doch sehr frustrierend: Ein unsäglicher Typ, der jahrzehntelang unsägliche Dinge gesungen und gesagt hat, macht jetzt aus guten Songs anderer Leute schlechte Songs – und hat riesigen Erfolg damit. Da kann man doch wahnsinnig werden!

 

Wenn ich das mal hier in aller Offenheit so fragen darf: Vielleicht sind die originalen Song ja doch nicht so gut gewesen? Vielleicht waren die Songs ja schon immer so, dass sie eigentlich Heino waren, nur etwas anders arrangiert?

 

Ein Song wie "Junge" von den Ärzten, der von Heino wie viele andere vergewaltigt wurde, ist ausschließlich mit einer ironischen und distanzierten Haltung singbar – insofern war er doch zuvor im Original etwas völlig anderes!

 

Ok, ich gebe es zu, das ist im Original ein sehr, sehr schönes Lied. Ach, ich weiß ja auch nicht, ob man sich da aufregen soll ... Jedenfalls ist mir bei Heino wie bei Schirrmacher in jedem Fall zu viel Marketing und zu wenig Substanz vorhanden. Und bei Heino ist es gut für sein Bankkonto – und dazu gut für die Kontos von allen, die er gecovert hat. Da sollen die sich nicht so anstellen. Von uns hat er keinen Song genommen.

 

Die FAZ unkte, Heino hätte sich an eine Band wie Tocotronic einfach nur noch nicht herangewagt. Aber gerade Sie, Herr von Lowztow, müssten sich sehr davor fürchten, dass ihre Musik von Heino irgendwann doch noch als Schunkelmusik kenntlich gemacht wird.

 

Das ist aber ein ausgesprochen dummer Satz. Wenn es irgendeine Qualität in unserer Musik gibt, dann die, dass sie definitiv nicht bierzeltkompatibel ist. Und sie ist auch nicht schunkelkompatibel. Heino würde es deshalb im Traum nicht einfallen uns zu covern, das ist eben so. Ich fände es ja gar nicht schlimm, wenn er es tun würde. Man stelle sich vor, Heino würde unseren Song "Kapitulation" singen! Das wäre andywarholmässiger als Andy Warhol! Es wäre an Absurdität nicht zu überbieten, ich fände das super! Vielleicht können wir Heino hiermit dazu ermuntern, erst unser Stück "Aber hier leben, nein danke" und dann "Kapitulation" einmal in seinem Gewand aufzunehmen. Ich möchte ihn geradezu dazu auffordern.

 

Tocotronic-Konzerte waren immer sehr physische Ereignisse, bis hin zur Erschöpfung aller Beteiligten. Am kommenden Wochenende spielen Sie live in München, was darf man erwarten?

 

Das wird nicht so sehr viel anders als man es von uns kennt.

 

Kein gepflegter Lyrikabend?

 

Nein!

 

Herzlichen Dank. Noch eine ganz andere Frage: Verkaufen Sie eigentlich noch Tonträger? Die Tocotronic-Generation fällt ja genau zwischen die der Noch-CD-Käufer und die der Nur-Noch-Downloader.

 

Wir haben zum Glück ein sehr tolles, offenes und loyales Publikum, das weiterhin die Alben kauft. Dafür haben wir wirklich zu danken, denn das ist nicht zu unterschätzen und es ist nicht selbstverständlich. Auch bei den Konzerten, die immer noch beglückende Erlebnisse sind, merken wir, wie viele Leute schon sehr lange mit unserer Musik vertraut sind, dass aber auch viele ganz junge kommen, etwa ab 20. Und es sind etwas gleich viele Frauen wie Männer da, was auch nicht selbstverständlich ist. Der Rockbereich ist ja sonst immer noch ein sehr mackerorientiertes Genre. Doch, ich empfinde das alles als sehr, sehr beglückend und als sehr, sehr toll.

 

Als Badener, der über Hamburg nach Berlin kam und dort heute zuhause ist: Spielen Sie gerne im Süden?

 

In München ist das Publikum überhaupt das allerschönste.

 

Hoho!

 

Im Ernst. Ich sage das nicht nur so, ich finde das Münchner Publikum toll. Und ich bin auch persönlich sehr, sehr gern in München. Es ist eine meiner Lieblingsstädte.

 

Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen ist hier in München seit Jahren unsere liebste Betriebsnudel in den Kammerspielen. Wäre das ganz ernsthafte Bühnenfach nicht auch mal was für Sie?

 

Man soll nie nie sagen. Im Moment bin ich aber sehr ausgefüllt mit Terminen. Es gibt durchaus die eine oder andere Idee in diese Richtung. Allerdings würde ich es sicher nicht als Autor und Regisseur machen, so wie Schorsch das macht, da fehlte mir das Selbstbewusstsein.

 

Ihr Spitzname soll Erdbeerbär sein. Ernsthaft?

 

Ja! Denn der Erdbeerbär aus dem Film "Toy Story 3" ist ein Schurke, der eine Art Schreckensregime in einem Kindergarten errichtet hat. Und er heißt Lotso, also fast genauso wie ich. Das ist natürlich ziemlich lustig. Und er riecht toll nach Erdbeeren!

 

2013 gibt es Tocotronic seit 20 Jahren. Grund zur Party oder zum Sentiment?

 

Weder noch, weder noch. Stilles Gedenken!

 

Tocotronic "Wie wir leben wollen" (Universal). Live am Samstag, 6. April 2013 in der Münchner Tonhalle.

 

 

Veröffentlicht am: 05.04.2013

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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