Zum Geburtstag von Sigi Sommer und zu einer neuen Spaziergänger-Aktion

Wie Blasius die "slow motion" erfand

von Karl Stankiewitz

Blasius. Foto: Heinz Gebhardt

Am Freitag (23.8.2013, 11.30 Uhr) enthüllen Bürgermeister Hep Monatzeder und Ute Leucht vom „Netzwerk Slowmotion“ zum zweiten Mal das nunmehr aufgefrischte Standbild des berühmten Spaziergängers und Journalisten Siegfried Sommer am Münchner Roseneck nahe dem Marienplatz. Die Aktion soll auf die Bedeutung des „Fußverkehrs als Mobilitätsform“ aufmerksam machen und die Münchner anregen, ihre Stadt durch slow motion, also „langsame Bewegung“, neu zu entdecken. Dazu dient auch die für Mitte September nach München einberufene internationale Konferenz „Walk 21“. Der 1996 verstorbene Sommer wäre heute zudem 99 Jahre alt geworden. Hier schreibt Sommers langjähriger Kollege und Weggefährte Karl Stankiewitz über Münchens größten Kolumnenschreiber. Es sind Erinnerungen, die bis 1947 zurückreichen.

Der Langsamgeher

Der Journalist Sigi Sommer, sein Stadtpoet Blasius - und seine Art der Fortbewegung

Feiner Zwirn und Feder. Foto: Heinz Gebhardt

„Schreibst halt jeden Tag a Verserl, an Stoff findst auf der Straß“, riet mir der Sigi am ersten Arbeitstag. Schon damals, im Herbst 1947, war er eine Respektsperson in der Lokalredaktion der Süddeutschen Zeitung. Wenn er einen Volontär zum Brotzeitholen in eine Baracke am Färbergraben schickte, zierte sich auch Anneliese Schuller nicht, die spätere Herausgeberin der Abendzeitung. Dabei war der aus Russland heimgekehrte Kollege Siegfried Sommer immer noch ein bescheidener Reporter, der nur eben besonders scharf beobachtete und halt jeden Tag ein mit „So.“ gezeichnetes „Verserl“, wie er seine Meldungen auch nannte, zu Papier brachte. „Lohnschreiber“ hieß er sich selbst.

Er ging einfach nur durch München, beobachtete scharf und machte sich Notizen. Eine genauere Personenbeschreibung – darauf hat der Held dieser Geschichte immer Wert gelegt und daher Anspruch – müsste etwa so lauten: Mit dem federnden Schritt und dem wachen, scharfen Gesichtsausdruck eines Sioux-Indianers pirschte Sigi Sommer durch die Prärien seiner Heimatstadt, schrieb noch unterwegs Einfälle und Eindrücke mit winziger Schrift auf rote Karteikarten, sinnierte oder diskutierte darüber ein bisserl mit seinen Spezln am abendlichen Stammtisch und diktierte anderntags seiner geduldigen Sekretärin Anita wieder einmal ein „G’schichterl“ für die Zeitung.

Die kleinen Meldungen und Lokalglossen erfreuten oder erregten die Leser der Süddeutschen. Für seine rührselige Beschreibung einer armseligen „Bescherung“ bedankte sich 1947 in einem herzlichen Leserbrief der hungernde, fast vergessene Karl Valentin. Eines Tages verpasste der Lokalchef Bernhard Pollack seinem Lieblingsschreiber das Pseudonym „Blasius“. Die anlaufende Serie dieses Münchner „Spaziergängers“ gefiel dann seinem Freund Werner Friedmann so gut, dass er sie für seine 1948 gegründete Abendzeitung übernahm.

Der Blasius wurde zu einer Münchner Institution. Tag für Tag, bei jedem Wetter, legte er bei seinen Spaziergängen an die zehn Kilometer zurück. Das hätte ihn im Laufe der Jahrzehnte zweimal um die Erde geführt, wenn er den Dunstkreis des Doms am Liebfrauenplatz nicht gar so ungern verlassen hätte. Stets trug er Turn- oder Tennisschuhe. Die Münchner Schuhmacher boten ihm die lebenslange Besohlung von zerschlissenen Ledermokassins an.

Ein Poet der Großstadt war dieser Siegfried René Sommer, wie er sich auf seiner ersten Visitenkarte nannte. Er war Eintänzer und bayerischer Jugendmeister im Boxen, ein typischer Münchner Stenz halt. Sein Vater hatte einen Cowboy-Club gegründet und sich „Häuptling Abendwind“ genannt. (Erinnerungen daran zeigt derzeit eine Ausstellung im Stadtmuseum). Den Überlebenskampf der kleinen Leute in den großen, grauen Mietskasernen, die Melancholie der Vorstadt, hat Sommer in seinem ersten Roman „Und keiner weint mir nach“ so meisterhaft erzählt, dass dieser in 17 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde und Bert Brecht  voller Lob war über den „besten Roman, der nach dem Krieg in Deutschland geschrieben wurde“.

Aber im Grunde war der Sigi immer ein schlichter Reporter geblieben, ein Mensch auf Wahrheitssuche. Einer wie Mark Twain oder Egon Erwin Kisch. Keine Kolumne in der deutschen Pressegeschichte hat sich länger gehalten. Keine wohl ist mit größerer menschlicher Anteilnahme gelesen, belacht, gefürchtet, genossen worden. „Dass sich mein bayerisches Herz an seinen Spaziergängen erholt“, wünschte sich der damalige Kardinal Joseph Ratzinger; dabei war der Blasius nicht gerade ein großes Kirchenlicht.

Er hat kaum einen Platz und kaum eine bekanntere Person in München mit seinem Spaß und Spott verschont. „Blasius der Spaziergänger“ fand seinen Stoff auf Partys der „Sossaiäti“ und bei Parteiversammlungen ebenso wie auf Rummelplätzen und Friedhöfen, in Büros, Bars und Gefängnissen. Auch so ungewöhnliche Leute wie Isartaucher, Wurmhändler, Hundefriseure oder die Herren auf dem „Tuntenball“ hat er besucht und unnachahmlich beschrieben. Der ewige Grantler berichtete sogar noch, als er eine Weile nicht mehr spazieren gehen konnte, sondern „unter dem Messer“ lag.

Prominenz (oder was sich dafür hält) war für den Stadtindianer aus Untersendling allemal Freiwild. Damen hatten über seine Späße manchmal nichts zu lachen. Über einen Auftritt der Knef, die ihm mittlerweile ebenso zugetan ist wie etwa die Dietrich, fiel ihm ein: „Und man hatte das Gefühl, jetzt wird sie gleich die Scherben von zerbissenen Cocktailgläsern husten... Sicher war die Hilde auch an mancher anschließenden Todsünde schuld...“

An seinen Stammtischen im Augustiner und, wenn’s kalt wurde, im Klösterl konnte man ihn mit seinen Freunden treffen, und oft hatte er da auch einen prominenten Gast.  Walter Scheel hat hier seine spätere Frau kennen und außerdem gelernt, wie man einen Bierradi in hauchdünne Scheiben schneidet. Willy Brandt verlieh dem Biergartenkönig Siegfried die Nadel „Freistaat Bayern“ und verbot ihm, ohne dieselbe jemals wieder bayerisches Territorium zu betreten. Manche Runde radelte er mit Franz Josef Strauß, mit dem ihn die „karge Kindheit“, aber sonst „nicht arg viel“ verband. Noch lange sollte er Prominenz und Partylöwen verunsichern.

Immer noch: Servus, Freund. Foto: Heinz Gebhardt

Oft noch bin ich meinem frühen Lehrmeister und Lehel-Mitbürger begegnet. Dabei fiel mir auf: Im persönlichen Gespräch waren ihm Spott oder gar berufstypischer Zynismus fremd. Siegfried Sommer und Blasius der Spaziergängen  – das waren zwei unterschiedliche Münchner Typen. Im Januar 1987 lieferte er in der AZ-Redaktion seinen letzten Blasius ab. Als  Sommer nach langem, leidvollen Klinikaufenthalt am 25. Januar 1996 verstarb, hinterließ er zwei Töchter, zwei Romane, ein (nicht ganz so erfolgreiches) Theaterstück, dazu 3500 Gschichterl und einiges Mobiliar, das heute die Monacensia verwahrt.

Eine von seinem Buchverleger Schulz gestiftete Bronzeskulptur des Bildhauers Max Wagner, die den Stadtpoeten mit Turnschuhen in der typischen Haltung des „Langsamgehers“ an seiner beinahe täglichen Laufstrecke zeigt, wurde im Juli 1998 enthüllt, wurde zum beliebten Fotomotiv und mit der Zeit etwas abgenützt. Weniger bekannt ist der von seiner Tochter und seiner Cousine initiierte, im September 2009 eingeweihte Sigi-Sommer-Platz in Untersendling, wo der angehende Stenz aufgewachsen war. Am 23. August könnte er, vorzugsweise an seinem immer noch gepflegten Sommerstammtisch im Augustiner, seinen 99. Geburtstag feiern.

 

Karl Stankiewitz arbeitet derzeit an einem Buch unter dem Arbeitstitel "Vermischtes", in dem auch ein Kapitel über Sigi Sommer vorgesehen ist.

 

 

Anm.d.Red. (24.8.13, 10.15 Uhr): Die Zeitform im ersten Satz wurde angeglichen.

Anm.d.Red. (25.8.13, 21 Uhr): Kursiver Hinweis am Schluss des Textes nach Hinweis des Autors korrigiert.

Veröffentlicht am: 23.08.2013

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