"Hey, was feiert ihr denn hier?" – Münchens ältester Poetry Slam wird 15 und zelebriert sich selbst

von kulturvollzug

Poet und Beatboxer: Dalibor. Alle Fotos: Jasmin Körber

Es ist Samstagabend kurz nach 19 Uhr, der U-Bahnsteig am Hauptbahnhof quillt über vor Menschen. Endlich, die U-Bahn fährt ein. Moment, ist die nicht ein wenig kurz geraten? Und warum wummern aus dem Inneren Elektro-Beats und die Fahrgäste tanzen unter Disco-Funzeln? Ein Blick auf die Anzeigetafel hilft: Es ist der „Slam Train“, der an diesem Abend zum dritten Mal durch den Münchner Untergrund rollt.

Zwei Waggons sausen zwischen Magfallplatz und Westfriedhof hin und her. Vielleicht ein bisschen zu wenig Platz für die Masse an Menschen, die der „Spoken Word Poetry“ lauschen wollen. Die Schlangen vor den Türen ziehen Schaulustige an: „Hey, was feiert ihr denn hier?“ Der Zug ist gestopft voll, aber wenigstens muss sich so niemand Sorgen machen, er könne umfallen. Immer positiv denken. Während im vorderen Waggon ordentlich was los ist und die Poeten und Rayl Patzak als DJ einheizen, geht es hinten ein wenig ruhiger zu. Musik und Wort werden nach hinten an Lautsprecherboxen übertragen. Dafür gibt es hier Softdrinks kostenlos.

Umfallen? Ist nicht.

Wäre der Abend einzig eine von der Münchner Verkehrsgesellschaft veranstaltete PR-Aktion gewesen, sie hätten es nicht besser machen können. Freundliches (!) Personal, das extra zur Betreuung der Gäste des Zuges abgestellt ist, und fast schon lässige weiße Armbinden mit der Aufschrift „Slam Train“ trägt? Das macht den gern gehegten Unmut gegen das Verkehrsunternehmen um ein Haar vergessen. Vielleicht ist die MVG ja doch besser als ihr Ruf. Auch das ein oder andere Geheimnis der Münchner U-Bahn wird an diesem Abend noch gelüftet: Zum Beispiel, wie es im Tunnel hinter der Endstation wirklich aussieht. Und dass das obligatorische „Zuuuuurücktreten, bitte!“ einfach besser klingt, wenn es von einem fetten Elektro-Beat unterlegt wird. Eine Praxis, die die MVG gerne beibehalten dürfte. Die Türen schließen sich, der Beat schwillt an, Gäste und Poeten raven durch die Nacht und dunkle Tunnel.

Kurzes Päuschen am Mangfallplatz.

Das Aufgebot an Künstlern kann sich an diesem Abend sehen lassen. Nicht nur Wolf Hogekamp, seines Zeichens Begründer des ersten deutschen Poetry Slams in Berlin, bietet dem „Substanz Slam“ zum Geburtstag ein kurzes Wort-Ständchen dar. Fünf Poeten aus den unterschiedlichsten Ecken Deutschlands und der Welt geben ihre Wortschöpfungen zum Besten. Lokalheld Björn Dunne ist ebenso mit von der Partie wie Pierre Jarawan, SlamMaster des Poetry Slams in Kirchheim und mit vierzig Siegen bei sechzig Slam-Teilnahmen einer der erfolgreichsten Slammer Deutschlands. Die weiteste Anreise hatte aber wohl Eboni Hogan. Die Amerikanerin ist amtierende Titelträgerin des Women of the World Poetry Slams, einer der renommiertesten Slamveranstaltungen in den USA, dem Geburtsland des Poetry Slams. Momentan tourt die 25-jährige wegen ihrer, wie sie selbst sagt, ersten Midlifecrisis um die Welt und trägt ihre Texte vor. „And now I’m standing here, reading poetry to a train full of Germans“, das ist selbst für alte Hasen wie sie ein Novum. „I have to document this, because you know, at home nobody’s gonna believe this”. Die Stadt München kann also doch noch überraschen, wer hätte das gedacht?

Dem DJ über die Schulter geschaut.

So unterschiedlich die Poeten, so zusammengewürfelt die Fahrgäste: Wie bei jedem Slam ist das Publikum buntgemischt. Alles was irgendwie Subkultur ist oder sich zumindest dafür hält, ist dabei. Hier stehen Handy-Gürtelclipträger einträchtig neben Pseudonerdbrillenträgerinnen, Chucks treten auf Lederschuhe und Flanellhemd schmiegt sich an GoreTex-Jacke. Gut, der ein oder andere sieht auch ein bisschen so aus, als hätte er sich verirrt und warte darauf, an seiner Haltestelle aussteigen zu dürfen.

Die U-Bahn rattert zwischen den beiden Endhaltestellen hin und her, ab und zu hält der Zug, entweder am Bahnhof, gerne auch mal irgendwo mitten im Tunnel. Wo sind wir überhaupt? Egal! Die Zeit verfliegt, der Blick wandert selten hinaus in die Dunkelheit, weil die Party innen stattfindet. „Haben wir noch Zeit bis zum Hauptbahnhof?“, fragt der Frankfurter Slammer Dalibor, während wir uns irgendwo im Nirgendwo bewegen. „Hm, dann beatboxe ich jetzt halt noch ein wenig.“ Der Beat dazu kommt DJ Rayl Patzak, der sonst gemeinsam mit Ko Bylanzky den Substanz-Slam organisiert und moderiert, im Lyrik-Kabinett bei „Poetry in Motion“ aber auch ganz gern den Discjockey gibt und dabei Beats unter Poesie legt. Die Musik, sehr elektrolastig, gefällt.

Localslammer Björn Dunne.

Mittlerweile hat der Zug wieder den Hauptbahnhof erreicht. Draußen warten schon neue Fahrgäste darauf, eine Runde mit dem Slam Train zu drehen. Noch dürfen sie nicht rein, denn einer der Poeten trägt noch eine Geschichte vor. Sie heißt „Herr Müller steigt nicht aus“. Herr Müller arbeitet bei einer Bank, er ist ein Bürohengst. Morgen für Morgen steigt er in den gleichen Zug, fährt zur Arbeit und steigt aus. Aber nicht heute. Heute bleibt Herr Müller einfach sitzen. Der Zug hält, Menschen steigen ein und aus, Herr Müller gehört nicht dazu. Denn Herr Müller weiß jetzt, was das größte Problem ist in seinem Leben – er selbst. Und das wird er ändern. Herr Müller wird nicht mehr aussteigen. Er saß bestimmt im Slam Train.

Jasmin Körber

Veröffentlicht am: 14.02.2011

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