„Hurenkinder Schusterjungen“ bei Radikal Jung im Volkstheater

Drinnen ist es auch nicht besser als draußen

von kulturvollzug

Wärst du doch ein Koffer! Tschech (Thorsten Danner) und Ali (Anne-Marie Lux) üben Liebe. Foto: Christian Kleiner

Im WG-Mikrokosmos gibt es alles, was es in der Welt auch gibt. Vor allem aber Sex, Gewalt und Erniedrigung. Viel mehr hat die Inszenierung von Tarik Goetzke im Münchner Volkstheater nicht zu bieten. Dabei birgt Marianna Salzmanns Stück interessante Ideen. Das "Hurenkind" weiß nicht, woher es kommt; der "Schusterjunge" weiß nicht, wohin er geht. So lauten die Umbruchregeln in der Setzersprache. Die Protagonisten von Marianna Salzmann wissen vor allem nicht, was sie wollen. Das trifft wohl auch auf die Inszenierung von Tarik Goetzke zu. Dieser hat mit „Hurenkinder Schusterjungen“ sein Regiestudium abgeschlossen. Anfang 2014 fand die Premiere im Nationaltheater Mannheim statt. Nun war Goetzke mit seiner Produktion bei Radikal Jung im Münchner Volkstheater zu Gast.

Salzmanns Stück erzählt die Geschichte von Tschech (Thorsten Danner), Ali (Anne-Marie Lux) und Buchs (Martin Aselmann). Die drei leben zusammen in einer WG in dem heruntergekommenen Haus, das dem älteren Tschech gehört. Ali ist die einzige, die Arbeit hat. Sie versorgt als Zugbegleiterin Fahrgäste mit Getränken und Snacks. In ihrem Job muss sie funktionieren, den heißen Kaffee, der ihr den Handrücken verbrennt, ertragen. Und vor allem das dumme Geschwätz der Reisenden ausblenden, um nicht den Verstand zu verlieren. Wenn sie es nicht mehr aushält, versteckt sich Ali in der Kofferablage und überlegt, welcher Koffer sie wäre.

„Ich will spielen, wenn du ein Koffer wärest, was ist an dir was“, sagt Ali zu Tschech. Doch der hat etwas ganz anderes im Kopf. Der Versuch, Sex zu haben, wird zu einer Slapstick-Nummer, bei der die Schauspieler ihr akrobatisches Geschick unter Beweis stellen. Wenn dann die rosa Penis-Attrappe aus Tschechs lilafarbener Unterhose baumelt, ist das beim ersten Mal noch lustig.

Die Protagonisten stehen unter Dauerstrom. Sie schreien, rennen und turnen auf der dreieckigen Konstruktion aus Gitterstäben herum, die auf der Bühne Tschechs Haus markiert. Das begrenzte Bühnenbild ist eine Kombination aus Käfig, Irrenhaus und Boxring. Was gibt es da draußen, was es hier nicht gibt? So lautet das Motto dieser Wohngemeinschaft. Drinnen gibt es Sex, Gewalt, Erniedrigung und irgendwie auch den Versuch, daraus so etwas wie Familie zu machen.

Dabei wird gerammelt, zugeschlagen und gesabbert. Schon nach kurzer Zeit sieht die Bühne aus wie ein Saustall. Alles, was man gerade aufgebaut hat, liegt in der nächsten Sekunde in Trümmern. Doch zu oft wird die Kombination aus Sex und Gewalt in diesem Mikrokosmos durchexerziert. Da hilft dann auch der rosa Baumelpenis nichts mehr.

Während sich die drei wechselweise schlagen oder ausziehen, spielt sich in der Welt da draußen etwas ab. Ali zappt durch die Fernsehkanäle und sieht, was vor ihren Türen los ist: Auf den Straßen sind Proteste ausgebrochen. Vom Dach von Tschechs Haus aus könnte man die Tränengaswolken für Nebel halten. Hoch über der Stadt wollen die drei Mitbewohner nachspielen, was unten passiert. Sie setzen sich Gasmasken auf, doch ansonsten unterscheidet sich ihr Spiel nicht von dem ‚normalen‘ WG-Wahnsinn. Als jedoch Ali behauptet, eine Bombe am Körper zu tragen, will Buchs das Spiel abbrechen. „Das ist zu nah dran“, schreit er.

Ob Istanbul oder die Ukraine. Proteste sind Realität. Die Brutalität, die damit verbunden ist, auch. Salzmann will als Dramatikerin das aktuelle Geschehen aufgreifen. Dabei wirft sie interessante Fragen auf, die das Theater am Ende selbst angehen: Was tun, wenn die Welt in Flammen steht? Muss das Theater dann auch brennen? Auf der Bühne will man schon irgendwie mitmischen, aber ohne sich an der Realität die Finger zu verbrennen. Klar ist, dass das Theater nicht einfach wiederholen kann, was draußen passiert. Goetzkes Effekt-Schiene scheint hier jedoch nicht wirklich ein Lösungsansatz zu sein.

Die Proteste kennen Tschech, Ali und Buchs nur aus den Medien. Wer weiß schon, was da unten wirklich passiert? Vielleicht ist alles nur Fake? Ali geht dann doch raus auf die Straße, um mitzuprotestieren. Wofür sie kämpft und auf welcher Seite, das weiß sie nicht. Tschech will verhindern, dass Ali sich in die unbekannte Gefahr begibt. „Ein Mal übers Knie knacken wie ein Insekt“, ist seine Lösung für das Problem. Tschech zieht die Gitter immer enger. Salzmann macht mit „Hurenkinder Schusterjungen“ deutlich: Im Privaten gibt es ebenso viel Schreckliches wie da draußen. Egal wo, die Menschen machen sich gegenseitig und selbst fertig. Auch wenn sie sonst nichts können – darin sind sie richtig gut.

Ana Maria Michel

Veröffentlicht am: 14.04.2014

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