„Vivier“ von Marko Nikodijevic eröffnet die Opernbiennale

Panoptikum der Wiedergänger

von Alexander Strauch

Takteweise Stiche. Foto: Adrienne Meister

Wo man den Premierenabend in der Muffathalle auch hinschaute, überall sah man Menschen als Wiedergänger. Als zur Premierenfeier der städtische Kulturreferent Hans-Georg Küppers dem scheidenden Intendanten Peter Ruzicka für die langjährige erfolgreiche Leitung der Biennale dankte, sah man unter den Gästen mit Manos Tsangaris auch einen seiner beiden Nachfolger. Bevor der Abend begann, glaubte man im Orchestergraben am Horn den Wiedergänger des kürzlich verstorbenen Berliner Komponisten Friedrich Schenker zu erkennen, seinerseits Posaunist.

Der Komponist Marko Nikodijevic und sein Librettist Gunther Geltinger legten „Vivier – ein Nachtprotokoll“ als Lebensrevue des kanadischen, 1983 ermordeten, schwulen Komponisten Claude Vivier an. Es begann mit einer SM-Liebesszene, in welcher sein Lover ihm mit einer Schere Wunden zufügt und endete mit einer ebensolchen Szene und über 40 Messerstichen, die dem masochistischem Komponisten das Leben kosteten. Nun ist eigentlich jeder Komponist per Berufung Masochist: ein Orchesterwerk, eine Oper oder eine Kantate zu komponieren kostet viel Lebenszeit, die man trotz aller modernen Kommunikationsmittel doch sehr einsam und manchmal höchst depressiv am Schreibtisch verbringt.

Das Adoptivkind Vivier erlebte dies schon vor seiner Zeit als Komponist. Während seiner später abgebrochenen Priesterausbildung begeisterte er sich wohl mehr für den Darsteller des Sankt Sebastian als die Heiligengeschichte dahinter, was zu seinem Rauswurf aus dem Seminar führte. Dies war eines der stärksten Bilder in der Inszenierung von Lotte de Beer, was wohl auch am leidenschaftlichen Tenor Musa Nkuna lag, der den Sebastian und viele Rollen darüber hinaus sang wie auch seine sehr überzeugenden Kollegen Malte Roesner und Daniel Holzhauser in all den vielfachen Nebenrollen. Im weiteren Verlauf der Oper begegnet Claude Vivier, sehr expressiv und mit tiefer Hingabe vom Countertenor Tim Severloh gesungen und durchlebt, Peter Tschaikovsky. An einer Oper über diesen scheiterte Vivier. Weitere Stationen von Musik und Biografie sind Japan sowie eine Begegnung mit Marco Polo, beides inspirierte Vivier zu weiteren wichtigen, zum Teil unvollendeten Werken. Es folgen Stationen in Pariser SM-Schwulen-Clubs, wo Vivier meint Mozart und Merlin zu begegnen. Auf einer nächtlichen Metrofahrt flirtet er mit einem Banlieue-Jugendlichen, der schließlich sein Mörder wird.

So provokant wie bunt dieser Reigen wirkt, so wirft vor allem dessen textliche Gestaltung manche Fragen auf. Einerseits ist das Libretto Geltingers gereimt wie ein Theatertext der alten Meister, was vor allem in den Club-Momenten an den Rand der Erträglichkeit führt. Zwar schreibt Marko Nikodijevic dazu eine harte Musik, die in ihrer Triebhaftigkeit an Techno erinnert. Da aber elektronische Instrumente und raue, authentische Rap-Stimmen fehlen, überzeugen vor allem die Momente, welche die Solisten des Kammerchors München wie Sänger von Heinrich Schütz' Exequien klingen lassen, grundiert von einer verführerischen Begleitung von vibratolosen Streichern, Gongs und Weingläsern. Allerdings auch Verdoppelungen: Vivier deklamiert „ich fühle“, wo bereits der Gesang, die Musik alles ausdrückt.

Man hätte sich manchmal eine klarere Trennung von chorischem Kommentar und solistischem Handeln gewünscht. Dafür war der Plot wie die Inszenierung trotz traumhafter, schwebender Momente zu realitätsnah und erinnerte an Polittheater der frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Erfrischend war allemal, wie Nikodijevic in der Neuen Musik verpönte Anklänge an Carl Orff mit dem Repertoire der Spieltechniken eben genau dieser Neuen Musik kombinierte. Nach der Erfahrung seines Opernerstlings darf man weiter gespannt sein. Für das koproduziernde Staatstheater Braunschweig und dessen Orchester unter der klaren Leitung von Sebastian Beckedorf war es eine großartige musikalische und denkerische Herausforderung für das Normalpublikum, fernab der Festivalspezialisten und Szenekenner der Premiere.

Veröffentlicht am: 09.05.2014

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