Auf den Spuren der Münchner Bohème des 19. Jahrhunderts im Isartal

Wo nicht nur der Buchenwald auf den blonden Liebling wartete

von Karl Stankiewitz

Das Lutzhaus, das Liebesnest von Rilke und seiner Lou in Wolfratshausen. Foto: Sammlung Stankiewitz

Einen Blick in das „Liebesnest der Weltliteratur“ will eine Ausstellung bieten, die am 27. Juni 2014 im Hollerhaus von Irschenhausen unter dem Titel „Heimweh nach draußen“ eröffnet wird. Die anzüglich-anspruchsvolle Bezeichnung gilt einer Reihe von Schriftstellern und Künstlern, die seit Ende des 19. Jahrhunderts im Isartal südlich von München, im heutigen Landkreis Wolfratshausen, einen Ableger der Schwabinger Bohème gegründet hatten. Eine Tradition, die wenig bekannt ist und nun neu belebt wird, nicht zuletzt durch einen rührigen Kulturverein im Bauerndörfchen Irschenhausen.

Der von Monacensia, Volkshochschule und einigen Bürgermeistern unterstützte Verein hat seinen Sitz im 450 Jahre alten Hollerhaus, das über Generationen hin von Malern und Literaten bewohnt wurde; zuletzt diente es auch noch als Drehort für Filme mit Maria Schell, Ruth Drechsel und Ottfried Fischer. Im August 1914 begegnete in der benachbarten Pension Schönblick der 39jährige Dichter Rainer Maria Rilke bei einer ärztlich empfohlenen Kur der 23jährigen Malerin Lou Albert-Lazare und verliebte sich – wieder einmal.

Umrahmt wird die Ausstellung von Vorträgen, Lyrik, Musik, Couplets, einem (ausgebuchten) Wochenendseminar, einer Matinee, einem Busausflug zur Tiroler Grenze und einem literarischen Spaziergang durch Irschenhausen mit Monacensia-Chefin Elisabeth Tworek, die das bayerische Oberland bis in die letzten literarischen Spuren erforscht hat. Auch die Kreisstadt Wolfratshausen bietet sich für eine etwa zweistündige  „Literatour“  an.

Ausgangspunkt: das nach seinem Münchner Erbauer benannte „Lutzhäuschen“ oberhalb der Stadtpfarrkirche, wo Rilke im Alter von 22 Jahren und seine damalige, 36jährige „Gefährtin“ Lou Andreas Salome - wie eine Inschrift verkündet - „einen Sommer lang lebten und wirkten“. Der aus Prag zugewanderte Rilke studierte damals in München Literatur und Kunstgeschichte, nannte sich aber schon „Herausgeber“ - wegen seiner ersten gedruckten Gedichte mit dem Titel „Wegwarten“.

Der Sommer der Leidenschaft dauerte genau vom 31. Mai bis zum 8. September 1897. „Ich war so fremd und so verlassen / dass ich nur tief in blütenblassen / Mainächten heimlich seelig war“ - so ein Vers aus Rilkes Gedicht-Reihe  „Advent“, die noch im selben Jahr erschien. Inzwischen war der Ehemann der Freundin in Wolfratshausen aufgetaucht. Mit ihm zog die gebürtige Russin Lou, selbst eine produktive Schreiberin, zunächst nach Berlin um. Rilke folgte ihr.

Folgen wir nun den Spuren der Verliebten auf den Hängen der schönen, alten Stadt, die sich zwischen den Naturschutzgebieten von Isar und Loisach ausbreitet. Noch gleicht die Lutzvilla einer späteren Beschreibung von Lou. Der Herzensfreund, so erinnerte sie diesen in einem Brief, habe immer die Fensterläden geschlossen, „um den Einblick Unberufener von der Straße her abzuwehren, so dass nur der ausgesparte Holzstern darin uns ein bisschen Tageslicht gönnte“. Noch sind die Sterne in den Läden zu erblicken. Und noch gibt es, hinten im Garten, die in einer Fotografie dokumentierte Holzlaube. Die beiden Liebenden sind darauf zu sehen, außerdem die Novellistin und Ostafrika-Forscherin Frieda von Bülow und der Jugendstil-Künstler August Endell. Sicherlich meinte Rilke diese Liebeslaube in diesem Vers:

„Das Land ist licht und dunkel ist die Laube

und du sprichst leise und ein Wunder naht

Und jedes deiner Worte stellt mein Glaube

als Betbild auf an meinem stillen Pfad.“

Wenn es sich die Kreisstadt Wolfratshausen leisten könnte, den Pfad, der links vom Lutzhaus weiter hinaufführt, nach Rilke zu benennen (nur ein kurzer Weg in einer Randsiedlung trägt seinen Namen), dann wäre eine weitere Stätte seines „Wirkens“ leichter zu finden. Auf einem bewaldeten Bergsporn entdecken wir aber nur einen Weg mit dem Namen des heimischen Malers Neuhaus, welcher hier wirklich gewirkt hat (von ihm stammen beispielsweise die Wandbilder der evangelischen Kirche, die übertüncht und nur teilweise restauriert wurden). Tatsächlich waren auch Lou und Rainer Maria, wie sie den eigentlichen René umgetauft hatte, Ende Juli 1897 in ein »Fahnensattlerhäuschen« umgezogen, und nur dieses fand der Dichter eigener Erwähnung wert:

„Ich wohnte einen Sommer lang am Hang

der Platz ist schwer zu erspähn

in einem Bauernhause

in dem ich mich manchmal grause

der Bauer geht so oft mähn.“

Das Pärchen schlief genau über dem Kuhstall. Nichts mehr ist heute von dem Haus zu erspähen. „Und du lächelst darauf so herrlich und heiter / und bald wandern wir weiter.“ Sie waren gewiss viel gewandert. Oft nach Dorfen, zu ihrem Bauern und dessen Frau. Schon wegen der prächtigen Barockaltäre in der Dorfener Kirche lohnt der Abstecher. Er führt durch eine romantische Schlucht und durch herrlichen Laubwald.

„Leise ruft der Buchenwald

winkt mit seinen jungen Zweigen

weit hinaus ins Wiesenschweigen

Kommt mein blonder Liebling bald?“

Unmarkiert zieht sich zwischen Wald, Weide und Golfplatz ein Weg, an dem sturmerprobte Sträucher gepflanzt wurden, gegen das Westwetter schützend; sie sollen - hier wird behördlicher Hinweis fast poetisch - „die Wucht des Windes bremsen“. In manche Baumrinden sind Namen und Herzen geritzt, der Weg ist wohl nicht nur von dem Liebespaar des Jahres 1897 begangen worden. „Keine Haftung für Personen- und Sachschäden“ - das bezieht sich auf fliegende Golfbälle. Und noch ein Spruch von einem unbekannten Dichter: „Manche mögen's frisch, andere alt, viele picken das nur, andere fressen es.“ Die Rede ist von den Käfern im und am Holz, denn unser Weg ist mittlerweile in einen Erlebnispfad übergegangen.

Ein gelbes Dreieck weist zurück nach Wolfratshausen. Die Kapellen des Kreuzweges sind mit südländischen Motiven frisch ausgemalt, die Liebfrauenkapelle wurde von Vandalen verwüstet und mit Spendengeldern renoviert, die Kreuzigungsgruppe kann durch Neonlicht erhellt werden. Ein Gedenkstein gilt den beiden Förstern, die sich um den Wanderwegebau verdient gemacht haben.

Nichts aber erinnert in diesem Bergwald an die beiden Schriftsteller (auch Lou hat in Göttingen 20 Bücher und etwa 150 Aufsätze hinterlassen). Doch die Freilichtbühne im Wald bietet Literaturwanderführern noch einmal Gelegenheit, einen der 49 erhalten gebliebenen Liebesbriefe in Gedichtform (ebenso viele sollen, weil zu intim, von wem auch immer, verbrannt worden sein) zu rezitieren:

„Lösch mir die Augen:

ich kann Dich sehn.

Wirf mir die Ohren zu:

ich kann Dich hören.

Und ohne Fuß noch kann

ich zu Dir gehn.

Und ohne Mund noch kann

ich Dich beschwören. . .“

Die Liebe erlosch erst vier Jahre später und ging in eine lebenslange Freundschaft über. Am Beginn des Ersten Weltkrieges, als er sich in die zweite Lou verliebte, schrieb er seiner 14 Jahre älteren Muse aus Irschenhausen voller Sehnsucht: „Wie oft, liebe Lou, in diesem ungeheuerlichen August, wusste ich, dass es eine einzige Stelle gäbe, wo es wirklich zu überstehen wäre: bei Dir; in Deinem Garten...“

Ohne diese Lou, deren Namen er am 29. Dezember 1926 noch in der Todesstunde beschwor, fiel der Dichter immer wieder in Depressionen. Er wollte sich von ihr sogar therapieren lassen, denn sie war, einst Sigmund Freuds beste Schülerin, auch eine bedeutende Psychoanalytikerin geworden. Sie aber lehnte jede Behandlung ab. Sie wusste wohl, dass der hochsensible Rilke dann jahrelang kein Wort mehr gedichtet hätte. Wo immer in Europa der unstete Mann lebte und „wirkte“, nie verließ ihn die Erinnerung an „diese schimmernden Wolfratshauser Nächte“.

Viele weitere Spuren der Literatur ziehen sich durchs Isartal, die Veranstaltungsreihe gibt Zeugnis davon. Schon Goethe notierte auf seiner italienischen Reise am 7. September 1786 bei Wolfratshausen ins Tagebuch: „Nun ging mir eine neue Welt auf. Ich näherte mich den Gebirgen, die sich nach und nach entwickelten.“  Im „Haus Vogelnest“ am Bergwald von Wolfratshausen (heute Schnellriederweg 8), im Schweizerhäuschen von Irschenhausen und in Beuerberg hielt sich der lungenkranke englische Dichter D. H. Lawrence (1885 – 1930) auf Anraten des Tölzer Arztes und Dichters Hans Carossa zwischen 1910 und 1912 mehrere Male auf; er verliebte sich hier in die verheiratete Frieda von Richthofen, schrieb ein Gedicht über das „weiße Städtchen“ und verarbeitete seine Erlebnisse an der Isar später in seinem Skandalroman „Lady Chatterly’s Liebhaber“.

Mitten in Wolfratshausen machte die Münchner Simpl-Wirtin Kathi Kobus 1908 in einer zwangsversteigerten Pension ein Café auf, nannte es „Kathis Ruh“ und lockte viele ihrer alten Stammkunden ins Isartal: Halbe, Wedekind, Queri, Mühsam und natürlich ihren Hausdichter Joachim Ringelnatz. Ernst Wiechert (1887 – 1950) baute sich 1936 den stadtnahen Hof Gagert, wo er – nach Gestapo-Gefängnis und KZ Buchenwald – bis 1948 wohnte und die meisten seiner vielen Werke schrieb. Aus Ebenhausen stammte Marianne Langewiesche (1908 – 1979). In Höllriegelskreuth hauste der als „Krautapostel“ bekannte Universalkünstler Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913). Im Kloster Schäftlarn logierte Franziska von Reventlow „mit Maus“ (Söhnchen Rolf). In Baierbrunn hatten sich Paul Klee (1879 - 1940) und  Gertrud von le Fort (1918 – 1939) niedergelassen.

 

Ein Teil des Berichts wurde dem Buch “Poetenpfade in Bayern” von Karl Stankiewitz entnommen, das bei Kiebitz Buch erschienen ist.

Veröffentlicht am: 25.06.2014

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Susanne
27.06.2014 09:02 Uhr

Danke für den Hinweis, München ist viel zu Landes-Hauptstadt bezogen, da tun Empfehlungen in die Region gut.

Aber muss das so lang werden? Das schreckt wirklich ab, ein Blick auf die Artikelgröße und man fängt gar nicht erst an zu lesen. Oder geht es hier um Zeilenhonorar? Dann will ich nichts gesagt haben.

HG

Susanne

Michael Grill
27.06.2014 15:06 Uhr

Hallo, sicher hat man mal mehr und mal weniger Lust zum lesen. Aber gibt es nicht schon mehr als genügend Abladestellen für serviceorientierten Häppchenjournalismus im Netz? Wir möchten uns dort nicht einreihen.

Beste Grüße, Michael Grill, Red. Kulturvollzug