Cameron Carpenters "Orgelrevolution" in Ingolstadt

Mit dem Spezialschuh Vollgas auf der Dampfwalze

von Michael Grill

Cameron Carpenter. Foto: Stefan Sauer/Audi Sommerkonzerte 2014

Die kommende Sensation auf einem Markt, der bislang von Künstlern wie Lang Lang und David Garrett bedient wird, füllt bereits das große Stadttheater: Virtuosität und Ernsthaftigkeit paaren sich mit steiler Optik, die Klassik wird mal wieder auf die Bühne "für alle" geholt. Hier muss man zunehmend von Cameron Carpenter reden, der in Ingolstadt zeigte, dass er nun die Orgel vom Instrument zum Event upgraded - und das ist auch positiv zu verstehen.

Der 33jährige US-Amerikaner mit dezentem, also schon noch mütterkompatiblem Punk-Styling und derzeit auffallend wuschligem Irokesenschnitt hat eine enorme musikalische Substanz, und zwar als Spieler wie auch als Vermittler seines Instruments. Seine genresprengende und offen auf Verkaufserfolg angelegte Präsentation sieht man ihm deshalb nach, was im Klassikbereich generell und in der Orgelmusik speziell nicht selbstverständlich ist.

In Ingolstadt also, wo Audi mit Hochkulturförderung (gerade bei den "Sommerkonzerten") viel Gutes tut, gleichzeitig mit akultureller Penetranz schöne Autos zu Werbezwecken vor dem Haupteingang des Stadttheaters abstellt, hat Carpenter seine fünfmanualige und für ihn maßgeschneiderteDigitalorgel aufbauen lassen. (Das Ingolstädter Stadttheater ist übrigens ein Gebäude, zum dem im Vergleich selbst der Münchner Gasteig eine filigrane Schönheit ist.)

Während draußen viele auswärtige Nummernschilder auf dem Parkplatz die überregionale Neugierde auf die "Orgelrevolution" belegen, und im Eiscafé Lido um die Ecke "Amadeus"-Eis verkauft wird, muss der Orgel-Mann drinnen sein Programm umstellen. Carpenter hat sich im Vorfeld des Konzerts am Fuß verletzt (siehe Interview im Donau-Kurier), was für jemanden, der üblicherweise auf Orgel-Pedalen wirbelt wie ein Riverdancer auf der großen Showtreppe, ein echtes Handicap bedeutet.

Eine Wand zur Klangerzeugung in Schwarzblau. Foto: Stefan Sauer/Audi Sommerkonzerte 2014

Das schon jetzt mythische Instrument Camerons steht wie ein Altar erhöht in der Mitte der Bühne und unmittelbar vor dem Publikum, seine Lautsprechersäulen (die nicht von ungefähr an Orgelpfeifen erinnern) umfassen die gesamt Breite der ohnehin sehr breiten Halle. Schwarzblau leuchtet die Phon-Wand wie eine Raketenwerferbatterie für Audio-Freaks, eine auf 20 beeindruckende Meter gezogene Quasi-Pfeifen-Herrlichkeit, umschwirrt vor Konzertbeginn von zig Handys mit aktiver Foto-App.

Endlich die Begrüßung "im Namen der Audi AG", bei der nun offiziell verkündet wird, dass der Künstler "etwas unrund geht", da ihm "ein schwerer Gegenstand auf den Fuß gefallen" sei. Man zeigt sich dankbar für seine Tapferkeit, trotzdem aufzutreten, besonders die auswärtigen Nummernschildbesitzer danken mit.

Carpenter hat sich, wie nun sichtbar wird, eine Art Spezialschuh gebastelt, um mit dem kranken Fuß spielen zu können. Selbst beim Hereinhumpeln umweht ihn eine Art athletischer Eleganz, er dankt nun seinerseits wie auch in der weiteren Folge des Abends mit stets buddhistisch vor dem Gesicht gefalteten Händen: "Um auf der sicheren Seite zu sein, beginne ich mit meiner eigenen Musik."

Diese angeblich sichere Seite, "Music for an Imaginary Film", ist ein brodelndes, teilweise polyrhythmisches, auch tonal wildes Gemisch. Kranker Fuß erzwingt also eine echte Herausforderung für alle, wie schön. Ein älterer Herr im Rollstuhl lacht verunsichert. Es ist, zumindest an dieser Stelle, eine Klangwelt, die im Bereich der Rock-Historie ihr Pendant trotz der epischen Klangweite nur ein bisschen bei Pink Floyd hat (dafür fehlt letztlich die schwelgerische Melancholie), aber sehr stark bei Mike Oldfield zu dessen Tubular-Bells-Phase (inklusive aller nervigen Mucker-Protzereien). Engagiert freundlicher Applaus.

"Jetzt probiere ich mal den Bach" - Erleichterung auch am Pedal, und für den Rest den Abends ist der Fuß kein Thema mehr, zumindest kein pathologisches. Irritationen zum Bach-Präludium gibt es höchstens dieser Art: Gehört das wirklich so schnell gespielt? Aber unabhängig davon ist es interessant, wie präzise Carpenter gerade bei Bach das Moderne an dieser Musik herausstellt.

Am Ende stehender Beifall. Foto: Stefan Sauer/Audi Sommerkonzerte 2014

Allerdings ist eine Orgel - Virtuosität hin, Klangwucht her - immer ein Instrument der Überwältigung. Er braucht hier nicht wie bei einem analogen Piano die Magie des Tasten-Anschlags. Eine Orgel ist mehr Dampfwalze als Rennwagen, und die in diesem Fall mit 10x4 Raketenwerfern bestückte Dampfwalze hat selbst dann den richtigen Feuerdruck, wenn man sie mit bandagiertem Fuß bespielt.

Je mehr sich Carpenter an diesem Abend freispielt, desto offensichtlicher wird, dass das Manko an diesem Abend eher der Stadttheater-Saal ist. Zwar ist das riesige Instrument so laut, dass bei tiefen Tönen gelegentlich die Holztüren in der hinteren Saalwand flattern. Aber es fehlt Volumen, die Klangmasse. Die Betonhülle ist kubatorisch zu breit und akustisch zu trocken, sie verschluckt Schall und nimmt ihm damit Wucht. Das ist schade.

Schließlich wirft Carpenters Sonderanfertigung die Frage auf, wo denn da eigentlich die Grenze zu einem Synthesizer zu definieren wäre, gerade weil der Künstler ein so dickschädliger Experimentator ist und sich um Konventionen nicht schert. Wenn er zum Beispiel Percussions-Elemente mit trockenen Bässen simuliert, dann mag man dem noch folgen. Aber wenn klingelnde Becken zu hören sind, oder ein Glockenspiel, ein Gong? Es soll hier nicht einem musikalischen Reinheitsgebot das Wort geredet werden (es wäre ohnehin Quatsch), sondern die Sorge ums Gesamt-Hörbild zum Ausdruck kommen: Irgendwann wird eine Monster-Orgel zur reinen Jokebox. Und Carpenter kommt dieser Grenze manchmal nahe. Etwa bei Camerons "Popsong-Paraphrasen" mit Fragmenten von Burt Bucharach bis zu Gordon Lightfoot, ohnehin nur die Campari-Lounge des Pop, und so stark paraphrasiert, dass der Vortragende den Urheberhinweis auch weglassen könnte.

Aber ja, es ist: interessant. Im Saal halten sich Verwunderung und Bewunderung die Waage.

Am Schluss des Ingolstädter Auftritts, nach gut zwei Stunden, war, wenn wir es richtig verstanden haben, Scriabins Klaviersonate Nr. 4 noch korrekt an ihrem vorgesehenen Programmplatz, und das Publikum riss es final von den Sitzen. Überwältigung, hurra!

Veröffentlicht am: 11.07.2014

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

Weitere Artikel von Michael Grill:
Andere Artikel aus der Kategorie