"Lulu" von Alban Berg an der Bayerischen Staatsoper

Männertraum mal anders

von Volker Boser

Bo Skovhus (Dr. Schön, Jack the Ripper). Foto:Wilfried Hösl

Eigentlich ist alles ganz einfach: Alban Bergs Oper „Lulu“, die jetzt im Nationaltheater Premiere hatte, beginnt mit dem Zirkus-Auftritt eines Tierbändigers, der die Anforderungen an die Titelheldin sehr präzise auf den Punkt bringt: „Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften – und zu morden, ohne dass es einer spürt.“ Eben eine „Femme fatale“, wie wir sie aus den meisten Inszenierungen der Vergangenheit kennen. Doch der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov hatte es sich anders überlegt. Seine Lulu, rothaarig und stets adrett weiß gekleidet, besitzt die Verführungsqualitäten einer jener emanzipierten Jung-Managerinnen, die nein sagen, aber ja meinen, wenn es um die Frauenquote geht. So souverän Marlis Petersen die Partie auch meistert – als glaubhafte Persönlichkeit ist sie allenfalls eine interessante Alternative.

Dmitri Tcherniakov, der sich in der Regel seine Bühnenbilder selbst baut, hatte sich diesmal ein Glasparzellenlabyrinth ausgedacht, unspektakulär und bisweilen bereichert um ein paar weiße Stühle. Die Folge ist: Es kann nur an der Rampe gesungen werden. In den Orchesterzwischenspielen sind hinter der gläsernen Fassade zwei Dutzend Paare ausgiebig damit beschäftigt, die emotionalen Höhen und Tiefen zwischen Lulu und Doktor Schön, dem einzigen Mann, den sie wirklich liebt, pantomimisch nachzuzeichnen.

Keine Sozialkritik an der Doppelmoral einer morbiden Gesellschaft also – Dmitri Tcherniakov begnügt sich damit, dass sich die Titelheldin früh in ihr Schicksal fügt:

„Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat.“ Die Hürde ist dennoch hoch. Marlis Petersens jugendlich klarer Stimme fehlt bei aller Virtuosität das sinnliche Timbre, die erotische Ausstrahlung. Ihre Lulu wirkt kontrolliert, domestiziert. Ein Männertraum? Darüber ließe sich streiten.

Marlis Petersen (Lulu) und Bo Skovhus (Dr. Schön/ Jack the Ripper). Foto: Wilfried Hösl

Wie zu erwarten, bestand Münchens neuer Dirigier-Star Kirill Petrenko darauf, die von Friedrich Cerha komplettierte dreiaktige Fassung zu präsentieren, was die Gesamtdauer der Oper inklusive zweier Pausen auf vier Stunden dehnt. Wer sich an Aufführungen unter Pierre Boulez oder Michael Gielen erinnern mochte, wird überrascht gewesen sein, wie zart, lyrisch und ganz ohne Kanten Kirill Petrenko die Sänger und das wunderbar sensibel aufspielende Staatsorchester über die Klippen der Partitur geleitet. Die expressiven Momente erklingen zurückhaltend, gezähmt. Sehr zur Freude der Premierenbesucher: Schon zur Pause wird Petrenko jubelnd heilig gesprochen.

Dass Lulu am Schluss ihrem letzten Liebhaber Jack the Ripper das Messer aus der Hand nimmt, um sich selbst zu erstechen, wirkt wie ein letzter Akt der Selbstbestimmung. Sie kommt ihrem Mörder zuvor, denn nur sie bestimmt, was mit ihr geschieht. Das Umfeld hat sich zu fügen: der großartige Bo Skovhus (Dr. Schön/Jack the Ripper), die lyrisch-gefühlvollen Tenöre Matthias Klink (Alwa) und Rainer Trost (Maler), der energisch kraftstrotzende Martin Winkler (Tierbändiger), dazu Pavlo Hunka (Schigolch) und Daniela Sindram als dezent leidende Lesbe Geschwitz.

Die neue Staatsopern-„Lulu“ stellt manches Klischee auf den Kopf. Man muss damit nicht einverstanden sein. Aber die Eindringlichkeit und das musikalisch wie szenisch gleichermaßen hohe Niveau verdienen uneingeschränkte Anerkennung.

Veröffentlicht am: 27.05.2015

Über den Autor

Volker Boser

Volker Boser ist seit 2010 Mitarbeiter des Kulturvollzug.

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