Bonn und München feiern das Werk der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven

Doppelte Hommage an die Maximalkunst einer grandiosen Anachronistin

von Christa Sigg

"Kulturgeschichte 1880-1983, 1980-1983". 1590 Blatt, 19 Plastiken. Rechte bei Hanne Darboven Stiftung, Hamburg, VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Wo soll man eigentlich anfangen? Einfach mittendrin in diesem Raster-Meer gerahmter Seiten? Sitzt womöglich im Detail die Erklärung? Und was ist überhaupt der Sinn dieser dauernden Überbordung? Man könnte hier leicht ungehalten werden. Und ratlos. Ratlos vor allem, wenn man sich dem Werk Hanne Darbovens (1941-2009) mit den üblichen Erwartungen nähert und das Ganze kapieren, durchdringen, eine Botschaft aus dieser – nennen wir’s ruhig – Zumutung herausfieseln will.

„Wir hätten locker vier riesige Museen mit ihrem Œuvre füllen können“, bemerkt Rein Wolfs, der Intendant der Bundeskunsthalle Bonn in München. So sind es „nur“ zwei Häuser, die sich diese erste große Retrospektive seit dem Tod der Konzeptkünstlerin aufteilen. Und während man sich in Bonn, passend zur Ausrichtung der Kunsthalle auf politische Arbeiten wie die „Bismarckzeit“ (1978) und Biografisches konzentriert, steht im Münchner Haus der Kunst die Auseinandersetzung mit der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte im Fokus. Wobei die Prinzipien dieselben sind.

Blatt für Blatt hat die Tochter einer Hamburger Kaufmannsfamilie mit ihren Zahlenfolgen gefüllt, Quersummen aus Kalenderdaten gebildet und auf dieser Grundlage ein immer komplexer werdendes System ausgetüftelt. Oder bei den „Schreibarbeiten“ endlos Wort an Wort gesetzt, getrieben von einem unfassbaren Pflichtbewusstsein, das ihren gesamten Lebensrhythmus bestimmt hat.

Frühmorgens um vier, wenn die Ziegen gefüttert waren, setzte sich Darboven in ihre Schreibstube, um Punkt zwölf Uhr mittags den Griffel aus der Hand zu legen. Kunst ist zu allererst Arbeit, das Tagwerk musste vollbracht werden, über vierzig Jahre lang. Da kannte sie kein Pardon.

Überhaupt hatte ihr Leben viel von dem eines Mönchs. Da war dieses asketische Äußere, das raspelkurze Haar, die schmale, fast ausgemergelte Figur, die meistens in einem schlichten dunklen Herrenanzug steckte. So, wie ihn früher die Buchhalter im Kontor der Kaffeerösterei getragen haben. Mit dem Unterschied, dass Darbovens Zahlensysteme und Auflistungen nicht für Warenmengen und -werte stehen. Eher ist es ein Festhalten von Tagen, Monaten, Jahren, als könnte sie nicht nur die Zeit im Moment des Vergehens, sondern auch das Geschehene fassen – mit dem nicht eben bescheidenen Anspruch, ein ganzes Universum aufs Papier zu bringen und zugleich ein eigenes zu kreieren. Sogar in der Musik: Darboven lässt ihre Zahlenreihen in (wenig inspirierende) Notationen übersetzen.

Zigtausende von Seiten sind so entstanden, und die Künstlerin kombiniert sie oft genug mit Ansichtskarten, Fotos, Magazinseiten, Formularen – etwa aus der elterlichen Firma. Im zentralen Saal der Münchner Schau, gefüllt mit Darbovens „Kulturgeschichte von 1880-1983, 1980-1983“, sind auf die unglaubliche Menge von 1590 gerahmten Blättern sagenhafte 30.000 Postkarten verteilt. Dazu kommen 19 Objekte wie ein hölzernes Karussellpferd oder zwei Schaufensterpuppen in Trainingsanzügen der 70er-Jahre-Trimm-Dich-Bewegung. Greifbare Reichs- und BRD-Vergangenheit sozusagen.

Darboven „dokumentiert“ damit mehr als hundert Jahre der politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Deutschen. Ohne Analyse, ohne dezidierte Wertung. Die Zusammenfassung des Zeitgeists oder dessen, was die Menschen umtreibt, überlässt sie unter anderem dem Politmagazin „Spiegel“. Oder besser dessen Titelseiten, die die aktuellen Debatten aufs Tablett bringen, vom alten Adenauer über den „Kampf um die Pfunde“ bis zum „Wüstenfuchs“ Rommel oder Loriots TV-Hund Wum, den das Fernsehprogramm anödet.

Wie Souvenirs einer verlorenen Zeit fungieren die einzelnen Bilder, manchmal tippen sie das Kopfkino an. Doch wer hier nach stringenten inhaltlichen Zusammenhängen fahndet, tappt im Dunkeln, um schließlich in der Gesamtschau der gerahmten und exakt in Reihen übereinander platzierten Seiten dann auch wieder etwas Wohltuendes auszumachen: eine Ordnung.

"Kulturgeschichte 1880-1983, 1980-1983". Rechte bei Hanne Darboven Stiftung, Hamburg, VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Genauso bedarf Darbovens unstillbare Wissensgier der Reglementierung. Etwa in den „Erfindungen, die unsere Welt verändert haben“ (1996), von der Druckerpresse bis zum drahtlosen Telegraphen. Die entsprechenden Abbildungen werden eingebettet in Kommentare aus dem Brockhaus. Häufig sind es aber auch nur Darbovens typische, Schrift simulierenden Wellenlinien, die zum Beispiel die Orte, Sehenswürdigkeiten und Landschaften der Arbeit „Erdkunde I, II, III“ (1986) „erläutern“. Unüberblickbares muss in Reihen und Spalten gebracht werden. Und wahrscheinlich ist dieses Prozedere nicht zuletzt auch getragen von der alten Sehnsucht nach einer Summa allen Wissens, wie sie die mittelalterlichen Theologen und Philosophen antrieb.

Kopflastig mag das erscheinen, kryptisch und in gewisser Weise autistisch, doch in der Kombination mit Trödel und Antiquitäten gewinnt dieses Werk eine emotionale Ebene. Im „Musikzimmer“ mit den unterschiedlichsten „Instrumenten“ zwischen Xylophon, Schweizer Taschenmesser und Flügel, das dem Aufbau in Darbovens Atelierhaus nachempfunden ist, hat man das in Konzentration – in Bonn sind es Berge von Puppen und Spielzeug („Kinder dieser Welt“,1990-96), die den Besucher fast anrühren und zugleich ein Bild der manischen Sammlerin Hanne Darboven vermitteln.

Das war der einzige Exzess, den sich die Kettenraucherin neben ihrer Nikotinsucht gönnte. Auf dem Familienanwesen in Hamburg-Harburg musste sie deshalb dauernd anbauen, bis zur Decke gefüllt waren die Lager und Arbeitsräume. Doch sie wusste genau, was wo untergebracht war. Genauso wie sie parat hatte, welche Ratenzahlung eines Sammlers am Soundsovielten eingegangen sein musste. Der frei nach Warhol zur Factory mutierte Darboven-Apparat samt Assistenten und schließlich sogar zwei professionellen Schreiberinnen musste am Laufen gehalten werden.

Dabei stand die zeitlebens kränkelnde wie zähe Amazone einst in New York unter dem intensiven Einfluss der Minimal Art. Gefördert von ihrem Freund und Kollegen Sol LeWitt fertigte sie in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre serielle Konstruktionszeichnungen auf Millimeterpapier an. Die überschaubaren Blätter sind geblieben, in ihrer Vielzahl haben sie im Lauf der Zeit allerdings zu immer gewaltigeren Werk-Dimensionen geführt. „Ich mache Maximalkunst“, hat die Künstlerin es selbstbewusst auf den Punkt gebracht.

Bedenkt man, dass parallel zu dieser Ausdehnung immer größere Datenmengen auf immer kleinerem Raum elektronisch verarbeitet werden konnten, dann ist Hanne Darboven bei aller formalen Ästhetik ihrer bizarren Ordnungssysteme auch eine grandiose Anachronistin.

„Zeitgeschichte“, Kunsthalle Bonn, bis 17. Januar 2016; „Aufklärung“, Haus der Kunst München, bis 17. Januar 2016. Ein gemeinsamer Katalog erscheint im Prestel Verlag, 49,95 Euro.

Veröffentlicht am: 06.01.2016

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