"Mayerling"-Gastspiel zur Ballettfestwoche

Der Rockstar und sein Gothic Girl

von Isabel Winklbauer

Rudolfs rebellische Clique in der Schänke. Foto: Wilfried Hösl

Mimisch anspruchsvolle Rollen stehen Sergei Polunin besser. Das durften die Zuschauer beim Gastspiel des Moskauer Stanislavsky-Balletts anlässlich der Ballettfestwoche erleben. In „Mayerling“ zeigt der gefeierte Tänzer nicht Business as usual, sondern lotet als von Gewaltphantasien gequälter Kronprinz Rudolf die Abgründe der Seele aus. Das lenkt über weite Strecken vom Alter von Kenneth McMillans Drama ab.

Wenn der Vorhang gefallen ist und die Kompanie zum Schlussapplaus wieder herauskommt, behalten Tänzer oft ihr Rollengesicht auf. Wie oft treten Armand und Marguerite mit tapfer lächelnden Bittermienen vor die Zuschauer, oder Giselle mit gütiger Entrücktheit. Nicht so Polunin: Er lacht einfach ins Auditorium, erleichtert, nicht im Schicksal Rudolf von Habsburgs gefangen zu sein, sondern nach 135 Minuten innerlichen Kampfes als Weltstar wieder aufzuerstehen. Das hat Charme – und spricht für seine Kunst. Nur wer so ehrlich wiederauftaucht, ist auch vorbehaltlos eingetaucht in einen Charakter.

Wenn du Hochzeitsnacht hast und merkst, dass dein Mann krank ist. (S. Polunin und Anastasia Limenko als Stephanie). Foto: W. Hösl

Es gibt nichts zu lachen im Hause Sisi. Der Sohn der Kaiserin, Rudolf, heiratet die belgische Prinzessin Stephanie und soll fürs Regieren fit werden, verärgert seine Umgebung aber ständig durch Affären mit anderen Frauen und einer trotzigen Sympathie für ungarische Separatisten. Nichts macht dem Nachkommen der habsburgischen Über-Eltern Freude, er hält sich fest an Rebellion, Sex und Gewalt. Die Solos, in denen Rudolf seine innere Ausweglosigkeit erkennt und um irgendeinen Sinn in seinem kaiserlichen Leben ringt, sind ergreifend. Polunin hat keine Angst, Qual zu zeigen, er krümmt sich, bettelt seine kühle Mutter um Hilfe an, sucht nach Halt in der Leere und findet schließlich Antwort in der Anbetung der 17-jährigen Mary Vetsera. In der heutigen Zeit wären die beiden ein düsterer Rockstar und ein Gothic-Girl als Groupie. Ksenia Shevtcova sprang in der Rolle für die erkrankte Natalia Somova ein (Kulturvollzug sah die zweite Vorstellung), was kein Nachteil war: Das Publikum sah ein hageres, anmutiges Mädchen mit unglaublicher Willenskraft, endlosen Beinen und Armen sowie der Bereitschaft zur absoluten Hingabe.

Mary Vetsera (re., Ksenia Shevtcova) hat keine Angst vor Waffen. Foto: W. Hösl

Tänzerisch interessant sind an „Mayerling“ die Pas-de-deux von Rudolf und seinen Frauen: Prinzessin Stephanie, Mutter Sisi, Ex-Freundin Gräfin Larisch, Kokotte Mizzi Caspar und Todesgefährtin Mary. Fünf Ballerinen braucht es für dieses Stück! Das Duett von Sisi und Rudolf ist eine der wenigen treffenden Charakterisierungen der österreichischen Kaiserin Elisabeth in der Kunst überhaupt. Die Frau hatte wenig mit der süßen Romy Schneider gemeinsam, sie war eher verbohrt, kühl, überdiszipliniert und in gewissem Grad auch egoistisch. Natalia Krapivina spielt die rücksichtslosen Drehungen und Wendungen des Charakters voll aus.

Auch die Szenen, in denen Rudolf mit seinen vier Ungarn zusammentrifft, sind bemerkenswert. In diesen politischenPas-de-Cinqs verhandeln die Männer mit Sprüngen und komplizierten Hebungen, wobei Polunin, wenn auch oft durch die verschränkten Arme der Separatisten niederdebattiert, sich als weichster und bester Techniker herausstellt (mit nach wie vor fantasievollen Pirouetten-Landungen). Als eines der ersten neoklassischen Ballette stellt „Mayerling“ einen Mann in den Mittelpunkt, und dies mit allen Themen des männlichen Kosmos. Keine Frage, Rudolfs Partie „muss man gesehen haben“, wie Wolfgang Oberender in seinem Essay fürs Programmheft schreibt – dieser übrigens ein wunderbarer Beitrag für alle, die sich in aller Kürze und Klarheit beim Experten über das Stück informieren wollen.

Grausiger Fund auf Schloss Mayerling - Rudolf und Mary haben es getan. Foto: W. Hösl

Manches ist aber auch altmodisch am fast 40 Jahre alten „Mayerling“. Die Rolle des Backfisch ergibt nicht viel Sinn, außer einem Ensemblemitglied zu ermöglichen, sich in einer komischen Rolle zu präsentieren. Wenn sie auch noch unglücklich besetzt ist, fällt umso mehr auf, dass sie dramaturgisch überflüssig ist. Verquast erscheint dem Zuschauer der Nach-Tarantino-Ära hingegen die Schlussszene. So kompliziert wie Rudolf würde heute in der darstellenden Kunst niemand mehr einen Doppelselbstmord begehen: Erst hält er Mary die Pistole an den Kopf, dann bringt er sie hinter den Paravent, ein Schuss erklingt. Dann kommt er hervor, seine Männer stürmen herein, er schickt sie fort, geht wieder hinter den Paravent und ein zweiter Schuss erklingt. Worauf die Männer wieder hereinkommen, den Paravent kippen und die zwei Toten entdecken. Es wäre natürlicher, die Schüsse ohne Bediensteten-Intermezzo vor den Zuschauern zu zeigen. Natürlich ohne Blut, als abstrahierte tänzerische Darstellung. Eine Schattenwand wäre eine weitere Option. Aber zum Sterben nach draußen gehen? Das ist nicht mehr zeitgemäß.

Veröffentlicht am: 08.04.2017

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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