Karl Stankiewitz über 50 Jahre Neuperlach

Münchens große Tochter - Geschichte einer schwierigen Stadtwerdung

von Karl Stankiewitz

Kinder in Neuperlach. Foto: Thomas Stankiewicz

Es war ein großartiges Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk, das die Stadt München bekam - vor nunmehr fünfzig Jahren. Knapp zehn Jahre zuvor - es war kurz vor dem Ausklang ihres 800. Gründungsfestes - begann die Vorgeschichte. Am Morgen nach einer Wahlversammlung seiner Schwesterpartei stattete CDU-Bundesbauminister Paul Lücke dem SPD-Oberbürgermeister Thomas Wimmer einen Höflichkeitsbesuch ab - und platzte dabei mit der Nachricht heraus, die Bundesregierung wolle Mittel für eine Satellitenstadt bereitstellen, um der Hauptstadt Bayerns aus ihrer außergewöhnlichen Wohnungsnot zu helfen.

Aus diesem konkreten Angebot sollte Westdeutschlands größtes Siedlungsprojekt der Neuzeit entstehen: Neuperlach, eine Entlastungsstadt für ein Einzugsgebiet von 400.000 Menschen. Die Vorgeschichte wird allerdings in der historischen Rückschau kaum je erwähnt, sie findet sich indes im Archiv des Reporters:

Es war eine Riesenüberraschung. Von dergleichen Großprojekten war bis dahin in München überhaupt noch nicht die Rede gewesen. Die Stadtverwaltung hatte lediglich auf zusätzliche Bundesmittel gehofft, damit über das normale Bauprogramm hinaus 10.000 Wohnungen erstellt werden könnten. Jahr für Jahr übersiedelten nämlich rund 30.000 Menschen in die magnetisch anziehende Stadt, deren Einwohnerzahl im Jubiläumsjahr bereits die Ende des Vorjahres erreichte Millionengrenze um rund 12.000 Köpfe überstiegen hatte.

„Auch Bund und Land kann es nicht gleichgültig sein, dass die Verewigung des Wohnungselends einen Herd für politische Unzufriedenheit, Kriminalität und sittliche Missstände zwangsläufig hervorruft“, hatte Baureferent Helmut Fischer die überregionalen Interessen angeschnitten. Nach langem Palaver, wie man das an sich nicht zuständige Bundeskabinett zur Hilfestellung gewinnen könnte, beschloss der Stadtrat, eine Delegation unter Leitung von OB Wimmer nach Bonn zu schicken.

Ehe man noch die Koffer gepackt hatte, erschien der Bundesminister Lücke wie der gute Nikolaus, um den Münchnern sinngemäß folgendes zu eröffnen: Eine direkte Finanzhilfe sei verfassungsrechtlich nicht möglich. Eine gewisse Möglichkeit ergäbe sich aber, wenn München sich entschließen könnte, eine „Ausweichstadt“ für etwa 30.000 Einwohner zu planen. Gelder ließen sich dann aus dem Fonds des sogenannten Demonstrativ-Programms für Städte lockermachen. Lücke ging bei seiner Sensationsvorstellung gleich ins Detail. Bonn könnte sowohl die Planungskosten wie die Erschließung des Geländes übernehmen. Außerdem würde man die Spitzenfinanzierung von acht- bis zwölftausend Wohnungen übernehmen. 60 bis 70 Prozent der Bürger dieser „Stadt in der Stadt“, wie sich der Minister ausdrückte, sollten die Möglichkeit haben, Eigentum an Grund und Boden zu erwerben. „Damit könnten sie Ihre Stadt auflockern und aufgliedern.“

Im November 1960 beschloss der Stadtrat einen „Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot“, der nicht weniger als 43 Planungsziele bestimmte. Darunter die Perlacher Haid, wo sich nach der Legende die Römer und Bajuwaren eine Entscheidungsschlacht geliefert haben sollen. Tausend Hektar wurden dort zwei Jahre später als Baugebiet für eine „Entlastungsstadt“ ausgewiesen.

Maßnahmeträger von „Neu-Perlach“ - der ersten Arbeitstitel „Großperlach“ missfiel - wurde 1963  die gewerkschaftseigene Baugesellschaft „Neue Heimat“ . Vor gut einem halben Jahrhundert - am 11. Mai 1967 - wurde in einem großen Festakt - OB war inzwischen der junge Dr. Hans-Jochen Vogel und Bundeswohnungsbauminister dessen Genosse Lauritz Lauritzen - der Grundstein gelegt. „Leider wissen wir nicht mehr den genauen Ort“, bedauert der Perlacher Heimatforscher Franz Kerscher.

Die Planziele waren gewaltig. Nie zuvor sei die Stadtplanung vor der Aufgabe gestanden, „in womöglich nicht einmal einem Jahrzehnt 80.000 Menschen an einem Ort ein Unterkommen zu schaffen, auf der grünen Wiese mit einem Schlag 23.000 Wohnungen, eine Stadt, zu erstellen“. So der Psychologe und Stadtbaukritiker Alexander Mitscherlich, der als Berater gefragt war. Eine Aufgabe, die schon deshalb außerordentlich war, weil ihr zunächst ein verbindlicher Gestaltungsplan fehlte, wie ein anderer Stadtteilforscher, das Bezirksausschussmitglied Bernhard Hartrad kritisiert. Alle Verantwortlichen waren sich nur einig in dem Willen, dass es keine bloße „Schlafstadt“ werden sollte. Noch aber beherrschten der dringende Wohnraumbedarf sowie die Vorstellung von der „autogerechten Stadt“ die Köpfe der Planer.

So wuchsen denn erst einmal Betonklötze in einem Halbrund empor, während eine Art Autobahn quer durch das Baugelände trassiert wurde. Immerhin war der von dem Berliner Architekten Bernt Lauter und Manfred Zimmer für 80.000 Menschen entworfene, gewaltige Wohnhausring vier Jahre später fertig. Purer Plattenbau-Populismus, den man durch ein paar schwarze Wandplatten ein wenig aufzulockern versuchte. Auch über die Höhe der Häuser herrschte lange Unklarheit: Von anfangs 18 Stockwerken kam man herunter auf viel weniger Etagen. Kritiker verglichen das Münchner Musterprojekt mit den riesigen Plattenbausiedlungen der DDR. Sie empfanden viele Häuser als monoton, einfallslos, verwechselbar. Die meisten Straßen und einige Einrichtungen wie das Marx-Zentrum bekamen Namen bedeutender Politiker und politischer Denker, vorzugsweise Sozialisten.

Allmählich aber, deutlich nach den Olympischen Spielen von 1972, vollzog sich eine „Rückkehr zur Urbanität“. Nicht mehr die Volumen, das Streben nach absoluter Größe waren die Ziele, sondern die menschlichen Dimensionen. Die Neue Heimat, die in einer ersten Ausstellung noch die ganze Hässlichkeit ihres Projekts offenbart hatte, malte sogar eine „Stadt der Zukunft“ an die öden Wände. Nach herben Verlusten und Skandalen jedoch ist das Gewerkschaftsunternehmen, das auch an der Parkstadt Bogenhausen beteiligt war, 1986 liquidiert worden. Ein massives wirtschaftliches Fundament mit zahlreichen Arbeitsplätzen bildete sich dann, als Siemens, Wacker und andere Konzerne zentrale Komplexe an den Südrand der verkehrsmäßig ausgezeichnet angebundenen Tochterstadt verlegten, während Infineon wieder schließen musste.

Erst als bereits mehr als 20.000 Menschen in die Wohnblocks von Neuperlach eingezogen waren, bildete sich ich ein Zentrum, entstanden schön gestaltete Schulen (nicht weniger als 17, darunter eine Europaschule), Kirchen, Einkaufszentren, Gaststätten, Kindergärten, ein Klinikum, ein Hotel, ein eigener kleiner Park und einige Heime (schließlich sogar eines für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge). In einem Behelfsbau, der sich „Kulturhaus“ nennt, hat sich ein kleines Theater etabliert, das sich sogar an den „Faust“ oder an Stücke in Englisch wagte und zum Jubiläum selbst verfasste Texte sammelt.

Die Geburtsfehler aber, meint Hartrad in seiner Studie, seien leider nicht mehr zu beheben. Die Folgen etwa von mangelhaften Freizeitmöglichkeiten, hohem Ausländeranteil, Ghettobildung – die Jugendkriminalität kulminierte Ende der 90er Jahre im Fall des türkischen Taugenichts „Mehmet“ – brachten diesen 16. Stadtbezirk zeitweise in Verruf. Ein unrentables Schwimmbad musste wieder geschlossen werden, auf den Planken über dem Becken übt jetzt eine Kampfsportschule. Immer wieder hatten die Neuperlacher mit Problemen zu kämpfen.

Bürgerfeste, Stadtteilwochen, Freizeitforen und künstlerische Initiativen sollten die weiter wachsende Betonstadt beleben. Der Eröffnung der „Perlacher Einkaufs-Passagen unter der größten Glaskuppel Europas" folgten 1981 massive Leerstände in den Subzentren. Heute ist dieses PEP  (das zweite P wurde werblich zum „Paradies“) mit seinen 120 Läden und 2200 Arbeitsplätzen in einem Kulturgeschichtspfad als umsatzstärkstes Einkaufszentrum Deutschlands verzeichnet. Bis Frühjahr 2018, nach einer Erweiterung für zwölf Millionen Euro, soll es mit dann mit 135 Geschäften die größte Shopping-Mall der Stadt sein.

Heute (Auskunft aus dem Statistischen Amt mit Stand Februar 2017) hat Neuperlach 49.800 Einwohner, davon 18 927 Ausländer. Das anhaltende Hauptproblem ist das oft beklagte Ärgernis, dass der vielleicht nicht schönsten, doch größten Tochter der Stadt immer noch das pulsierende Herz fehlt. Seit Jahrzehnten wird über ein Stadtteil-, Bürger- und Sozialzentrum diskutiert. Der Stadtrat wollte es eigentlich bis spätestens Mitte 2016 am Hanns-Seidel-Platz „auf den Weg bringen“. Aber immer noch gähnt dort ein riesiger Parkplatz. Immerhin ist bereits ein futuristischer Entwurf Wiener Architekten aus einem Realisierungswettbewerb hervorgegangen. Investoren werden noch gesucht.

Und hier noch ein Blick auf ein meist unbekanntes Thema: die Kunst in Neuperlach

Dank großzügiger Förderung durch Stadt, Sparkasse und Privatunternehmen erwuchs in dem von vornherein eher amusischen Stadtteil eine blühende Kunstlandschaft. Einige Beiträge wurden geradezu Wahrzeichen Neuperlachs: an der Einfahrt, die neun Meter lange „Blaue Spirale“ (Louis Constantin), vor der Einkaufspassage die Wasserpyramide (Alfred Aschauer) und die weißen Großkegel (des KoreanersJai Young Park). Fünfundzwanzig Meter über der Polizeizentrale bewegt sich eine frei gehängte Magnetnadel sanft im Wind und erzeugt hörbare Schwingungen. Der Mast, auf dem sie waagerecht schwebt, ist in Steinblöcke aus den fünf Kontinenten versenkt.

Künstlerisch wunderbar bereichert wurden die Gotteshäuser, beide gedenken christlicher Nazi-Gegner: In die Glasfenster der evangelischen Kirche sind Texte von Dietrich Bonhoeffer eingelassen (Ulrich Barann); dem „Marienbild unserer Zeit“ in der katholischen Pfarrkirche St. Maximilian Kolbe haben 14 Mütter aus der Gemeinde ihr Gesicht gegeben, die Porträts wurden (von Andrea Viebach) per Computer derart bearbeitet, dass ein Laser-Projektor das neue Umrissbild einer Madonna auf eine lebensgroße Hohlform wirft.

Im Zentrum unübersehbar ein Uhrturm mit einsehbarem historischen Laufwerk (aus der Feinmechaniker-Werkstatt Rauscher), eine luftbewegte Raumspindel (des Amerikaners Gorge Rickey), ein Windrechen mit sieben mobilen Flächen (Sebastian Heinsdorff) und eine astronomisch genauestens konstruierte Sonnenuhr (Blasius Gerg). Kinderfreundliche Objekte sind der auf einer Kugel tanzende Elefant (von Altmeister Rolf Nida-Rümelin), der auf einer Kugel reitende Münchhausen (Marlene Neubauer-Woerner) oder der mit einer Kugel spielende Bär (Josef Fromm). Ein „Wasser-Xylophon“ aus Bronzeblech mit acht Pfannen, von denen jede ein anderes Plätschergeräusch erzeugt, gilt als Meisterwerk des gelernten Bauschlossers und Musikers Paul Fuchs. Ein vollbärtiger Schäfer mit Lämmern ( Zenta Vogl-Zizler) will daran erinnern, dass hierorts zuvor nichts als Weideland war.

Veröffentlicht am: 11.11.2017

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