Milo Rau bei Spielart in der Kammer2 der Kammerspiele

Bildersatte Voyeure

von Michael Weiser

Dann mal guten Appetit: Szene aus "Die 120 Tage von Sodom". Foto: Toni Suter

Wie's gefallen hat? Erwartungsgemäß überhaupt nicht. "Die 120 Tage von Sodom" in der Inszenierung von Milo Rau als Gastspiel beim Festival Spielart sind eine Zumutung, so berührend wie ein Tritt in den Hintern. Was wiederum heilsam sein kann.

Eine kleine Loge mit Samtvorhang links, ein Kreuz in der Mitte, eine Tafel rechts, man versammelt sich dort zum letzten Abendmahl. Das Licht ist gedämpft. Ein Mann - es ist Robert Hunger-Bühler, ein Star des Zürcher Schauspielhauses - erzählt großmeisterlich fesselnd von einem tragisch gescheiterten Date. Da reist er seiner großen Liebe bis nach Spanien nach, schafft es glücklich, sie zum Kinobesuch einzuladen. Nur leider ist der Film eklig und seine Angebetete angemessen verstört. Das Publikum lacht, klar, wer kennt das nicht, eine Verabredung, der man entgegenbangt, und dann vergreift man sich in der Gestaltung des Abends. Aber so wüst gleich, mit einer Preview von Pasolinis Film "Die 120 Tage von Sodom". Ist schon witzig.

So lauschig ist es aber nur am Anfang. Natürlich, man kennt ja den Regisseur, der für das Geschehen verantwortlich zeichnet: Milo Rau, gefragter Theatermann. Einer, der viel reist und doch meist an einer Grenze zu orten ist - an der des Erträglichen. Was nicht so sehr an Raus unbedingter Lust am Skandal liegt als vielmehr an dem, was er von seinen Reisen zurückbringt. "Hate Radio", "Dark Ages", "Kongo-Tribunal": Es gibt tiefnachtschwarze Gegenden auf dieser Welt, und Milo Rau ist der Reiseführer dorthin. Er zwingt uns, hinzusehen.

Diesmal hat er sich dafür also die "120 Tage von Sodom" ausgesucht. Pier Paolo Pasolini hatte dafür eine Vorlage von de Sade in die letzten Tage des Faschismus transportiert. In die so genannte Republik von Saló am Ufer des Gardasees, wo Benito Mussolini von Hitlers Gnaden noch einmal so tun durfte, als sei er immer noch der allmächtige Duce.

Milo Rau inszeniert die Geschichte mit Darstellern des Schauspielhauses Zürich und des Theaters Hora, einem professionellen Ensembles geistig Behinderter. Die Rollen scheinen zunächst klar verteilt: Da die Akteure vom Pfauen, wie die altehrwürdige Adresse des Schauspielhauses lautet, dort die Hora-Truppe. Die vom Pfauen übernehmen die Rollen der Faschisten, die in den letzten Tagen der Republik von Saló junge Menschen einfangen und ihnen ein unmenschliches Regiment aufbürden, sie vergewaltigen, foltern, zum Fressen von Scheiße zwingen und sie töten. Die Behinderten als Opfer zu sehen, läge nahe, greift aber - natürlich - zu kurz. Schließlich gibt man vor, den Film nachzufilmen. Und Regie führen die von Hora. Die vom Pfauen dürfen ihnen allenfalls mal vormachen, wie das geht: vergewaltigen, richtig kacken, Leute töten. Es wird eklig, auf den Zuschauer prasseln nach und nach all die Schrecklichkeiten des theatralen Horrorkabinetts ein.

Pasolini und Rau schildern eine Dystopie, das arge Gegenteil von Utopie, das Ende der Menschheit im Mikrokosmos. Die Mechanismen unterscheiden sich im Laufe der Zeit gar nicht so sehr, nur fügt Rau dem  Komponenten hinzu. Welche Rolle spielen denn wir, die wir zusehen? Man müsste irgendwann, mittendrin, mal innehalten und sich fragen, wie man sich an all das überhaupt gewöhnen kann. Wie der Frosch, der doch sofort aus dem Wasser spränge, wenn's denn heiß ist, der aber sitzenbleibt, wird die Temperatur nur langsam erhöht. Der Frosch verkocht. Wir aber werden gesotten. Ja, wir sind schon hartgesottene Zuschauer. Kaum jemand verlässt die Spielhalle.

Milo Rau hat darüber hinaus eine Botschaft. Dank der Möglichkeiten der Pränataldiagnostik ist es möglich, Menschen zu töten, noch bevor sie auch nur den Anschein von Schuld auf sich geladen haben könnten. Darüber hat sich der Schweizer in verschiedenen Interviews geäußert: Föten, an denen eine Behinderung festgestellt wird, werden in den allermeisten Fällen abgetrieben. Wir sprachen vom letzten Abendmahl zu Beginn. Julia Häusermann vom Theater Hora spielt den Jesus. Zwischendrin wird sie mit beeindruckendem Hinterteil den Po-Contest für sich entscheiden. Am Ende wird sie gekreuzigt. Eine wüste Persiflage, die uns Milo Rau da vorsetzt, so wüst wie mittelalterliche Parodien, in denen die Ordnung der Welt auf den Kopf und damit richtiggestellt wird.

Rau zwingt auch da wieder zum Hinsehen. Schöne, junge Menschen lässt Pasolini quälen. Können wir aber Behinderte als schön ansehen, oder stehen dem wieder Sehgewohnheiten entgegen? Fabienne Villiger und Gianni Blumer spielen die Szene nach, in der sich zwei der Sklaven beim Sex erwischen lassen. Es ist die ruhigste Szene des Abends. Wir schauen hin. Und sind befremdet.

Ist das normal? Muss jeder für sich klären. Vermutlich muss sich der Betrachter erstmal von sich selbst befreien. Ebenso wichtig ist die Frage, wem Kriterien wie "normal" und "abnormal" überhaupt dienen. Es sind doch stets die, die auf Unterscheidung Herrschaft bauen. Denen, die einfache Maßstäbe entwickeln. Quasi als Türsteher: Du darfst rein, und du nicht. Wer darüber entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht, ist allemal mächtiger als der, der doch nur drinnen, am Tresen des Clubs, sein Bierchen trinken will.

Die Mechanismen, die Pasolini beschrieben hat, funktionieren also immer noch. Sie werden in Raus Inszenierung sogar überdeutlich herausgezeichnet. Indem er die Täter-/Opferperspektive noch ein weiteres Mal vertauscht. Während SS-Männer und Faschisten allgemein nur scheinbar auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind, in Wirklichkeit aber lediglich die Uniformen gewechselt haben, sind in Zeiten der neuen Menschenlese die Darsteller von Hora vielleicht tatsächlich die Letzten ihrer Art.

In all seiner Grellheit, mit all seinen Zumutungen ist Milo Raus Abend folgerichtig. Er geht an die Grenze dessen, was sag- und zeigbar ist.  Er stellt Sehgewohnheiten auf den Prüfstand, ebenso Rollenzuweisungen. Schließlich auch ans Publikum. Wie hartgesotten muss man sein, um so ungerührt auf den Rängen sitzenzubleiben? Sind wir nicht bildersatte Voyeure?

Und wo sind wir das nicht? Die Katastrophe des Bürgerkriegs in Syrien, zum Beispiel, wird oft als Drama bezeichnet. Jedes Drama aber braucht Zuschauer, die sich möglichst nicht in die Handlung einmischen. Ja, das wären dann mal wir. Milo Raus Inszenierung berührt. Auf die unangenehme Art eines Tritts in den Hintern.

Veröffentlicht am: 03.11.2017

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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