Karl Stankiewitz über die Anfänge der "bayerischen Raumfahrt"

Abheben in Ottobrunn

von Karl Stankiewitz

Vor den Toren der Airbus Group. Foto: Stankiewitz

„Bavaria One“ nennt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sein anpruchsvolles Technologie-Programm: In Ottobrunn soll ein Zentrum für Luft- und Raumfahrt entstehen. Tatsächlich ist dieser „Vorort aus der Retorte“ schon seit langem als Highttec-Standort weltweit bekannt, so dass die jüngste Absichtserklärung auch als aktuelles Wahlkampf-Verprechen nach dem Muster „Bayern zuerst“ gemeint sein könnte. Karl Stankiewitz hat die versteckten, zeitweise geheimen, oft erweiterten und umbenannten Anlagen mehrmals besucht und beschrieben.

So bereits im Juni 1961 als „neues Peenemünde“: Drei Mann vom Werkschutz in blauer Uniform bewachen den Schlagbaum. Erst nach sorgfältiger Prüfung und mit Kontrollmarken für Revers und Wagen bestückt darf der Reporter passieren. Der Weg führt an einem seltsamen Wahrzeichen vorbei: um einen blauen Kristallblock rankt sich ein bizarres Geflecht aus Blech, das von einem Flugzeugabsturz herzustammen scheint. Die Arbeiter nennen es „das grausame Auge“.

Links mächtige Hallen aus dickem Beton, die einmal dem Reichsluftfahrtministerium gehörten und noch die Spuren des Krieges tragen. Rechts ein graziler Neubau ganz in blau, aufgeteilt in drei Flügel. Man wird nur bis zur Eingangshalle vorgelassen. Die Konstruktionsbüros bleiben tabu. Ebenso der große Windkanal. In der Ferne hört man die Motoren des Luftwaffen-Stützpunkts Neubiberg. Sanft wiegen sich die hohen Kronen der Föhren im Wind. Ein neudeutsches „Peenemünde“ – jetzt das Zentrum der Luftfahrt- und Raketenentwicklung in der Bundesrepublik.

In den letzten Wochen war der Schleier etwas gelüftet worden. Auf internationalen Kongressen und Luftfahrmessen tauchte wiederholt der Firmenname „Bölkow-Entwicklungen KG“ auf. In eingeweihten Kreisen ging die Rede von fantastischen Projekten, von deutschen „Wunderwaffen“, von einem ersten Start der Bundesrepublik in das Gebiet der Höhenraketen.

Was ging wirklich vor in dem sieben Hektar großen Gelände bei Ottobrunn? Nun, ganz so geheim tat man hier doch nicht. Die Firma hatte sich jetzt sogar eine Abteilung für Public Relations angeschafft und ihr Leiter, Horst Wähner, gab bereitwillig Auskunft – soweit er selbst informiert war: „Wir arbeiten im Wesentlichen an Aufträgen des Bundesverteidigungsministeriums. Die Hauptgebiete der Entwicklungsarbeit sind ferngelenkte Flugkörper, Höhenraketen, Hubschrauber, Reise- und Segelflugzeuge und elektronische Spezialgeräte.“

Ende 1958 hatte Dipl.-Ing. Ludwig Bölkow, einst Chefkonstrukteur bei Messerschmitt, sein Ingenieurbüro von Stuttgart nach Ottobrunn verlegt. Mit sieben Fachleuten hatte er angefangen. Inzwischen waren allein im Hauptwerk 950 Mitarbeiter tätig. Die Gesellschaft hatte aber noch drei Zweigbetriebe und zwei Beteiligungen. Eine eigene Ingenieurgruppe wurde zudem für den „Entwicklungsring Süd“ abgestellt, wo mehrere Firmen der Luftfahrtindustrie an der Entwicklung von Hochleistungs-Flugzeugen zusammenarbeiteten. Prototypen hatten ihre Feuertaufe erhalten.

„Zur Ausstattung freigegeben“, so der militärische Fachausdruck, hatte das Bundesverteidigungsministerium auch Bölkows „Wunderwaffe“: eine ferngelenkte Panzerabwehrrakete, die nur 20 Kilo wog und so „handlich“ war, dass sie wie die (un)selige „Panzerfaust“ von einem einzelnen Krieger manövriert werden konnte. Das Geschoss, das einfach auf den Boden gestellt und durch Knopfdruck abgefeuert wurde, sollte auf eine Entfernung von 1600 Metern haargenau treffen und eine 42 Millimeter starke Panzerplatte durchschlagen. Mehrere Nato-Armeen erbaten eine Vorführung.

Als die Aufträge aus Bonn - der Verteidigungsminister war Franz Josef Strauß - mächtig wuchsen, fusionierte Bölkow sein Unternehmen 1969 mit der Messerschmitt AG und der Hamburger Firma Blohm und Voss. Am Geschäftssitz Ottobrunn leuchtete der neue Firmenname MBB auf. In mehreren Werken beschäftigte dieser Luftfahrt- und Rüstungskonzern, an dem auch der Freistaat Bayern beteiligt war, bis nahezu 40.000 hochqualifizierte Mitarbeiter. Im Jahr 1982, nachdem Amerikas neuer Präsident Ronald Reagan den Verteidigungsetat drastisch erhöht hatte - erwirtschaftete MBB nicht weniger als 5,68 Milliarden Mark, mit einem Überschuss von 60 Millionen DM; mehr als die Hälfte entfiel auf militärische Aufträge.

Der Kalte Krieg war ein gutes Geschäft. Ludwig Bölkow aber, der sich als Pazifist verstand, verließ den MBB-Vorstand und gründete 1983 eine Stiftung mit Sitz in Ottobrunn, die sich noch heute mit nachhaltigen Energie- und Wirtschaftsstrukturen befasst, insbesondere mit der Wasserstoffenergie. Für den (gescheiterten) Transrapid baute man eine Teststrecke in Ottobrunn. Auch am Intercity-Experimental und an anderen Großprojekten wurde bei MBB gearbeitet. In der Hauptsache aber erwuchs in der kleinsten Gemeinde im Landkreis München das größte Rüstungszentrum Europas. Anfang 1985 dann ein weiterer Besuch des Reporters:

Im staatseigenen Wald von Ottobrunn verbirgt sich die halbstaatliche "Industrie-Anlage-Betriebsgesellschaft" (IABG), wo alle künftigen Waffensysteme der Bundeswehr elektronisch durchgespielt werden. Nur ein blauer Turm neben einem schwarz-verglasten Langbau fällt ins Auge; er trägt die Buchstaben MBB. Eine eigene „Behelfsausfahrt" der Autobahn führt dorthin. Eingeweihte wissen, dass es sich um die Zentrale und die „Denkfabriken" von Messerschmitt-Bölkow-Blohm handelt, die sich auf 1,2 Millionen Quadratmetern erstrecken und an mehreren anderen Qrten der Bundesrepublik produzieren lassen: Raketen, Satelliten, zivile und militärische Flugzeuge in Teilen oder ganzen Stücken, aber auch hochgezüchtete Waffensysteme aller Art, darunter Raketengeschosse von strategischem Rang. die schon in einigen Krisengebieten der Welt „erfolgreich" eingesetzt wurden.

Galt MBB schon bisher als führender Raumfahrt- und Rüstungskonzern der Republik, so schien sich daraus in den 1980er-Jahren, so argwöhnt die bayrische SPD, der "größte Militär-Industrie-Finanzkomplex Europas" zu entwickeln. Aufsichtsratsvorsitzender von MBB war Bayerns Finanzminister Max Streibl (CSU), der später als Ministerpräsident über die „Amigo-Affäre“ stürzte. Die Rede war von einer Fusion zwischen MBB mit 35.700 Beschäftigten und der so genannten „Panzerschmiede" Krauss-Maffei am anderen Ende der Stadt mit 4800 Beschäftigten. Für 170 Millionen Mark sollte dieses Flick-Unternehmen damals verkauft werden. Auch ausländische Interessenten waren interessiert. Zu einer solchen „Elefantenchochheit“ kam es aber doch nicht. Krauss Maffei wanderte durch mehrere Hände und gehört seit 2016 einer chinesischen Staatsfirma.

Ihr forciertes Bemühen um Hightec mit Schwerpunkt Ottobrunn begründete die Strauß-Regierung mit der Sicherung von Arbeitsplätzen. Bei MBB lief das Tornado-Geschäft aus, und es hieß, die Weiterbeschäftigung von bis zu 4000 Mitarbeitern werde „äußerst problematisch“. Zwar bemühte man sich in allen Münchner Großbetrieben, „das zivile Bein zu stärken", wie es der von Terroristen ermordete MTU-Manager Ernst Zimmermann angestrebt hatte. Aber im weltpolitischen Klima - und bei den vielfältigen internationalen Verflechtungen, Beziehungen und Abhängigkeiten - schien der "Unternehmensbereich Wehrtechnik" noch lange Zeit das standfestere Bein zu sein.

Die Rüstungsproduktion näherte sich in Ottobrunn aber doch ihrem Ende, als die weltpolitische Wende am Ende des Jahres 1989 eine große militärpolitische Wende brachte – mit nachhaltigen Folgen für eine Industrie, die allzu lange und intensiv auf Hochrüstung gesetzt hatte. Ende 1991 waren mindestens 5 990 Beschäftigte der Luftfahrt- und Rüstungsindustrie in Bayern direkt von Entlassungen bedroht. Mandatsträger der CSU forderten, die Rüstungs-Exportbeschränkungen zu lockern, um Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der deutschen Industrie und somit dem Abbau von Arbeitsplätzen vorzubeugen. „Eine ähnliche Mentalität wie die der Putschisten in Moskau“, konterte die SPD im Landtag. Sie wollte lieber „neue Wirkungsfelder“ durch Experten erforschen lassen.

Unterstützt wurde dieser Vorschlag von Jürgen Schrempff, dem Chef der Dasa (Deutsche Eurospace Aktiengesellschaft), die als nachfolgendes Industriekombinat in Ottobrunn firmierte. Sie hielt 70 Prozent, der Freistaat Bayern 17,44 Prozent der MBB-Aktien. Der militärische Anteil sollte von 45 Prozent auf 20 Prozent heruntergefahren werden. Deshalb verhandelte der Münchner Konzern mit japanischen Partnern über ein superschnelles Passagierflugzeug. Außerdem setzte er auf einen großen Markt in der  Sowjetunion – die aber bald zusammenbrach.

Im Föhrenwald von Ott0brunn wurde also umgerüstet. Am jetzt so genannten Technik- und Innovationspark erschien wieder ein neues Firmenzeichen: Nach Bölkow, MBB, Dasa und zuletzt EADS (European Aeronautic Defence and Space Company) siedelte sich im Mai 2000 das internationale Unternehmen Astrium an. Rund 400 Mitarbeiter bauten hier die Schubkammersysteme für die Europa-Rakete Ariane, entwickelten neuartige Fertigungstechniken und mehrmals verwendbare Komponenten für die Luft- und Raumfahrt. Auf seiner Webseite meldet Ottobrunn heute: "Namenhafte Unternehmen aus den zukunftsträchtigen Clustern Luft- und Raumfahrt, Energie, Sicherheit sowie Satellitenkommunikation wie Luft- und Raumfahrt, Sicherheitstechnik, Airbus Defence and Space oder Energie sind in der Gemeinde vor Ort und im Ludwig-Bölkow-Campus werden Verfahren zur Produktion von Biokerosin und chemischen Wertstoffen aus Algen erforscht."

Einen Lehrstuhl für Raumfahrt, wie ihn Söder versprochen hat, gab es in München auch schon viel früher. Mit seinem 1964 gegründeten Studententeam „für Raketentechnik und Raumfahrt“ startete Professor Harry O. Ruppe, Ordinarius für Raumfahrttechnik an der TU München, im April 1974 von einer Ostseehalbinsel aus die erste Hybridrakete. Diese bot Ruppe, der lange in den USA arbeitete, für die Höhenforschung und sogar als künftigen „Raumschlepper“ an.

Dieser Artikel basiert unter anderem auf dem Buch „Babylon in Bayern. Wie aus einem Agrarland der modernste Staat Europas werden sollte“ von Karl Stankiewitz (edition buntehunde, 2004).

Veröffentlicht am: 02.07.2018

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