Sam Mendes' großartiger neuer Film

"1917": Was vom großen Schlachten übrigbleibt

von Michael Weiser

Inmitten der Apokalypse: George MacKay als Lance Corporal William Schofield. Foto Universal Pictures

Ein Film mit Schwächen. Und mit Stärken, die in aller Stille sogar die Schwächen übertönen: Sam Mendes' bildmächtiger Film "1917" erzählt vom Krieg so eindrucksvoll, wie man es selten gesehen hat. Über einen Kino-Neustart, der einen Großteil seiner Oscar-Nominierungen verdient hat.

Es beginnt idyllisch. Wir sehen britische Soldaten, junge Männer. Sie liegen im Gras oder sitzen dösend an einen Baum gelehnt. Zwei von ihnen werden zum General befohlen. Die beiden stehen auf und schreiten los. Wir sehen sie die ersten Minuten immer von vorn. Und wir sehen, wie sich mit jedem Schritt die Landschaft neben ihnen ändert: das grüne Gras wird bleicher,  ist irgendwann zertrampelt, neben den Voranschreitenden sehen wir mehr und mehr weitere Soldaten, Waffen, Feldküchen. Dann geht es langsam bergab, in einen Graben, der das menschliche Kanonenfutter näher an die Frontgräben bringt. Mehr und mehr abgerissene Soldaten kommen ihnen entgegen, die ersten Verwundeten, gestützt von Kameraden oder auf einer Trage liegend. Den General finden sie in einem düsteren Unterstand. Er erteilt ihnen einen selbstmörderischen Auftrag: Sie müssen so schnell wie möglich eine Meldung überbringen, die ein ganzes Regiment retten kann. Es ist keine Zeit zu verlieren. Doch da warten die Deutschen. Allerdings hat man von denen seit einigen Stunden nichts mehr gehört.

Schritt  für Schritt nähern sich die beiden dem Grauen, geraten schließlich ans Ende dessen, was zu begreifen ist: die letzte vorgeschobene Stellung der Briten, bemannt von apathischen Soldaten und ihrem desperaten Offizier. Dann erklimmen sie die Grabenkante, die Kamera gewinnt mit ihnen an Höhe – und fängt in einer Art düsterer Offenbarung das vom Granatenhagel zerschmetterte Niemandsland ein. Die beiden verlassen den Bereich der Menschen – und stehen auf einmal im Reich des Todes. Oder vielmehr - der Hölle.

Diese Anfangsminuten und der einsame Marsch der beiden jungen Briten durch das Niemandsland zwischen englischen und deutschen Grabenfronten machen das erste Drittel von „1917“ aus. Dieses erste Drittel ist der stärkste Teil des neuen Filmes von Sam Mendes („Jarhead“, „Skyfall“) - es ist so stark, dass es allein schon den Kinogang lohnt.

Sam Mendes erzählt in 1917 in Nahaufnahme von der Mission zweier Soldaten. Und im Großen und Ganzen vom Grauen des Krieges, und zwar so eindrucksvoll, wie man es seit „Der Soldat James Ryan“ nicht mehr gesehen hat. Faszinierend, dass ihm das über weiteste Strecken ohne die Lärmkulisse dieses Klassikers gelingt. Kein Trommelfeuer, kein Geknatter von Maschinengewehren – die beiden Protagonisten bewegen sich über quälend lange Minuten durch eine schauderhaft stille Landschaft des Todes und der Verwesung.

Die Bilder wirken surreal und sind doch stimmig und realistisch. Sam Mendes hat die Geschichte im Frühjahr 1917 angesiedelt. Da hatten die Deutschen soeben das „Unternehmen Alberich“ durchgezogen: eine gigantische Absetzbewegung von 29 Divisionen im Norden Frankreichs in vorbereitete Stellung, eine Frontbegradigung auf einer Breite von über 100 Kilometern, unbemerkt von den Alliierten.

In militärischer Hinsicht ein Meisterstück, bedeutete „Alberich“ einen neuen Tiefpunkt der Menschlichkeit. „Alberich“ wurde in den Augen der Franzosen zum endgültigen Beleg der Barbarei der Deutschen, die auf ihrem Rückzug systematisch alles vernichtet hatten, was der Mensch zum Überleben benötigt: Sie sprengten Häuser und Kirchen, vernichteten Eisenbahnlinien, vergifteten Brunnen und fällten Obstbäume, schlachteten Tiere ab und legten Sprengfallen, deportierten Zehntausende Franzosen. Über 200 Ortschaften radierten dieDeutschen kalten Herzens aus. Die geplante Offensive der Verbündeten aber – sie zielte danach ins Leere. Und in ihrer neuen „Siegfried“-Linie hatten sich die Deutschen bestens gegen die weit überlegenen Angreifer eingerichtet. Das wissen die Briten in Mendes' Erzählung noch nicht. In die Verwüstung des Rückzugsgebietes lässt Mendes seine Soldaten schlittern – über die Grenze ihrer Kraft hinaus.

Der Film hat Schwächen. Zum Beispiel in der Logik. Ob man gerade mal zwei Meldeläufern das Schicksal eines ganzen Regiments anvertrauen würde, ob dieses Regiment überhaupt isoliert zu einer Offensive starten würde, ein bisschen mehr als tausend Mann in der gigantischen Knochenmühle des Ersten Weltkriegs? Das darf man bezweifeln.

Mitunter erinnert der Film von der Optik und seiner Dramaturgie her an ein Computerspiel. Und hat doch auch da wieder starke Momente. In einer von Krieg vernichteten Ortschaft tastet sich Lance Corporal William Schofield (George MacKay) durch die nächtliche Ruinenlandschaft und stößt vor dem Brausen eines Feuersturms auf etwas wie sein Spiegelbild: ein Soldat, allein wie er. Zögernd bewegen sich die beiden aufeinander zu. Mensch begegnet Mensch, gleich, im nächsten Moment muss es soweit sein – da auf einmal läuft der andere los, auf den Briten zu, und beginnt zu feuern. Für Menschlichkeit ist hier kein Platz, keine Zeit. Kein Sinn. Der Fall der Menschheit ist ein tiefer, darunter ist nichts mehr. Thomas Newmanns orgelhaft brausende Musik verleiht dem Aufprall im letzten Kreis der Hölle den Sound.

Der Film überzeugt insgesamt durch seine starken Bilder. Roger Deakins hat die Kamera geführt, sie bleibt dicht an den Hauptdarstellern, so nah, als sei man der wissende Begleiter der beiden jungen Briten. Die Schnitte sind kaum wahrnehmbar, die Geschichte wirkt wie in Echtzeit aufgenommen, in einem Stück. One Shot nennt sich das Verfahren, und hier ist es nicht bloß neue Technik oder gar Mode: Es entfaltet die düstere Wucht, die den Film zu einem wahren Ereignis macht. Sam Mendes und sein Kameramann kommen daher ohne unnötigen Lärm aus. Es bleibt noch haften, ganz am Ende, der Blick in das Gesicht von George MacKay: Auch die Leere in seinem Blick erzählt sehr viel über das Wesen des Ersten Weltkrieges. Und damit über das Wesen des Krieges an sich. Aus diesem diabolischen Reich kehrt niemand mehr wirklich zurück. Seit dem 16. Januar 2020 im Kino. Unbedingt anschauen!

Veröffentlicht am: 24.01.2020

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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